Ein schönes Bild – Teil 1

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort ‚schön‘ nicht vorkommt. Jede*r Bildredakteur*in sollte ein Bild auswählen, das sie/er in dem vergangen Jahr ‚entdeckt‘ hat und begründen, warum ihr/ihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie/ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Oded Wagenstein, aus der Serie Transparent Curtains. Ausgewählt von Sabrina Böff.

Für die Serie Transparent Curtains fotografiert Oded Wagenstein homosexuelle Männer, die alle über siebzig Jahre alt sind und in Israel leben. Ein Land mit ständigen religiösen und ideologischen Kämpfen, in dem trotz fortschrittlicher Reformen in den letzten Jahrzehnten LGBTQ+-Mitglieder immer noch rechtlicher Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind.

Die Komposition und Ästhetik des Fotos haben mich direkt in seinen Bann gezogen. Es hat eine düstere und doch warme Stimmung, die auf mich leicht und beschwert zugleich wirkt. Dem Betrachter ist es nicht möglich, in die Augen des im Zentrum sitzenden Porträtierten zu schauen. Die durch den Papagei entstehende Barriere macht neugierig und bringt die Thematik auf den Punkt. Es geht um Freiheit und Verstecken, Liebe, Angst und Ausgrenzung. Einem Leben hinter transparenten Vorhängen. 

Der Papagei symbolisiert für mich die freie Liebe zu einem Menschen, egal welchen Geschlechts. Doch der mittlerweile über achtzigjährige Protagonist hat es nie geschafft, diese Freiheit zu leben. Um sich zu schützen, bleibt er im Verborgenen, teilt sein Geheimnis nur mit wenigen Menschen und wahrt den Schein dank Ehefrau und Kindern. Dafür nimmt er in Kauf, dass ein Teil von ihm nie richtig lebendig sein wird. „Es ist, als ob man einen Teil von sich selbst tötet.“ 

Ich kann mich in dem Bild verlieren beim Versuch, mehr in seinem Gesicht zu lesen, seine Gefühle nachzuvollziehen und mir seine Lebensumstände vor Augen zu führen. Es wirft immer wieder Fragen auf und fasziniert mich aufs Neue. Darum ist es für mich ein „schönes Bild“. 

Foto: Hashem Shakeri, aus der Serie Cast Out Of Heaven. Ausgewählt von Jana Redweik.

Realität oder Render?

Permanent von Bildern umgeben, nehmen wir Fotografien oft nur noch nebenbei wahr. Aber sehen wir dabei überhaupt noch, was sie uns zeigen und was braucht es, damit wir innehalten und genauer hinschauen?
Das Bild von Hashem Shakeri aus seiner Serie Cast Out Of Heaven ist eins dieser Bilder, an dem mein Blick hängen bleibt, weil es mir Fragen stellt: Was sehe ich hier? Ist es überhaupt eine Fotografie? Zeigt es die Realität oder ist es vielleicht sogar ein Render, ein 3D Modell?

Die flachen Farben, das Grau in grau, die sich immer wiederholenden Gebäude, die beinahe wahllos in der kahlen Landschaft angeordnet scheinen und nichts Positives, nichts Individuelles aufweisen und die fehlenden Anzeichen jeglichen Lebens, zeichnen für mich das Bild einer „perfekten“ Dystopie. 

Die Welt, auf die wir hier blicken ist jedoch kein 3D Modell und keine düstere Zukunftsvision, sondern die Stadt Pardis, eine Planstadt etwa 17 Kilometer nordöstlich von Teheran, der Hauptstadt Irans und somit die Realität für die etwa 200.000 Menschen, die dort leben. 

Aufgrund der US-Sanktionen und der damit einhergehenden steigenden Immobilienpreise, sind immer mehr Iraner und Iranerinnen dazu gezwungen Teheran zu verlassen und in die umliegenden Planstädte zu ziehen. Während hunderte Gebäude in kürzester Zeit gebaut wurden und somit Wohnraum für viele Menschen bieten, mangelt es diesen Städten jedoch an Bildungs-, Gesundheits-, sowie Sozialeinrichtungen – wichtige Bausteine für eine gesunde und funktionierende Gesellschaft.

Die Menschen, die in diese Planstädte ziehen, kommen voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Was sie jedoch erwartet, ist eine graue und trostlose Welt, die ihre Hoffnungen nicht erfüllen kann und auf mich wirkt wie eine Dystopie, da sie sich so fern von meiner eigenen Realität anfühlt.

Foto: Alessandra Asanguinetti aus der Serie The Adventures of Guille and Belinda and The Enigmatic Meaning of Their Dreams. Ausgewählt von Jana Rothe.

Ich eile zwischen Orten umher, Termine rauschen vorbei. Mein Blick hält sich nicht lange auf dem Smartphone, bevor mein Daumen weiterwischt. Bilder fliegen mir um den Kopf. In all dem liegt das Buch von Alessandra Sanguinetti auf meinem Tisch, dessen Cover mich täglich anzusehen scheint. The Adventures of Guille and Belinda and the Enigmatic Meaning of Their Dreams. Das Buch erzählt die Geschichte von zwei jungen Frauen, zwei Mädchen, die mich wie keine andere berührt hat.

In der Mitte des Buches ragen zwei halbe Körper aus dem Wasser. Es scheint so, als könnten diese nicht untergehen. Ich erkenne erst eine Flosse, dann ein geblümtes Tuch, unter dem sich ein gepunkteter Badeanzug befindet. Ich sehe Blumen in der Hand und in den Haaren. Erst denke ich an Tod, dann an das Leben. Das Leuchten der Farben und die ruhenden Gesichtsausdrücke leiten mich weiter und ich erinnere mich an die Schönheit des Abenteuers. Getrieben durch ein sorgloses Gewässer, von dem ich nicht weiß, woher es kommt oder wie schnell es fließt.

Spielerisch und ernst zugleich dokumentiert die Fotografin das Aufwachsen der Kusinen im ländlichen Argentinien. Fließend zwischen Fantasie und Realität erforschen sie ihr Umfeld und eignen sich dieses in tiefer Verbundenheit an. Sie werden zu Heldinnen ihrer eigenen Kindheitsgeschichte, die sich an Erwachsene richtet.

Mich interessiert nicht, was als nächstes kommt, denn ich verweile in der Szenerie und empfinde Ruhe für einen ewigen Moment. Und irgendwann, frage ich mich dann doch, was wohl als nächstes passiert. Ich bleibe gespannt und blättere langsam weiter.

Foto: Xiaoxiao Xu mit dem Titel Goldfish in plastic bottles. Ausgewählt von Marina Hoppmann

Die Fotografie Goldfish in plastic bottles beruhigt mich auf seltsame Art und Weise. Ich habe das Gefühl, einen Meter vor den Goldfischen zu sitzen und sie schon seit Stunden zu beobachten. Dieser Anblick, dieser Ausschnitt könnte auch eine vernebelte Erinnerung oder ein Traum gewesen sein. Ich stelle mir den Rest des Raumes vor — mehr Pflanzen und ein großes Fenster auf der linken Seite.

Die perfekt angeordneten Vasen, die Harmonie zwischen orangenen und grünen Kontrasten und die Stimmung im Bild fesseln mich und wirft zudem viele Fragen auf. Hat die Kombination aus Plastik- und Glasflaschen eine bestimme Bedeutung? Wurden die Flaschen mit den Goldfischen so vorgefunden oder von der Fotografin arrangiert?

Die Fotografie wirkt schon fast pittoresk, wie ein Stillleben, auf mich.

Das Bild ist Teil der Serie „Wenzhou“ und wurde in der gleichnamigen Hafenstadt aufgenommen. In der chinesischen Kultur gelten Fische als Symbol für Überfluss und Reichtum, Kraft und Harmonie. Auch dieser Umstand bestärkt die Frage, warum sich die Fische nicht in einem Aquarium befinden. Womöglich wollte die Fotografin diese Symbolik aufbrechen und umkehren und somit aufzeigen welche Folgen der Überkonsum unserer Zeit auf die Umwelt und Natur hat.

XiaoXiao Xu ist mit 15 Jahren von China nach Holland gezogen und blickt seit vielen Jahren durch die Linse auf ihr Heimatland. In ihren Fotografien behandelt sie ihre persönlichen Erfahrungen und Gefühle und dokumentiert das sich so schnell verändernde Land China.

Foto: Tajette O’Halloran mit dem Titel The Lake. Ausgewählt von Tilman Vogler

Auf dem Bild The Lake von Tajette O’Halloran sehe ich zunächst eine vermeintlich heitere Szene: Jugendliche baden an einem warmen Sommerabend in einem See. Die nur teilweise erkennbaren Gesichtsausdrücke der Jugendlichen und deren Positionierung zeugen für mich jedoch von Einsamkeit und Nachdenklichkeit. Die Spannung in dem Foto ließ mich sofort innehalten. Es ruft einerseits positive Assoziationen und persönliche Erinnerungen hervor, steht aber gleichzeitig durch die ernsthaften Ausdrücke und düsteren Gesichter in Gegensatz zu diesen. Was verbirgt sich hinter dieser cineastisch wirkenden Szenerie?

O’Halloran hat in ihrer künstlerisch-dokumentarischen Arbeit In Australia Szenen kreiert, die für sie ein bestimmtes Gefühl erzeugen. Die Fotografin hat ihre Erinnerungen fotografisch umgesetzt: das Aufwachsen in einer Kleinstadt, Fragen nach dem Leben als Kind von Eltern einer laissez-faire Hippiegeneration, die Suche nach dem Ich, Gefühle des Verlorenseins. All das spiegelt sich in diesem Bild wieder.

Es wird nicht zusammen geschwommen, gelacht oder die wohltuende Abkühlung im See genossen. Stattdessen scheinen die Jugendlichen für sich alleine stehend, in sich gekehrt. Voller Gedanken, Fragen, Zweifel. Ich muss an die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm denken und frage mich wie in einem Film, was passiert jetzt?

Foto: Sebastian Wells aus der Serie Moria brennt! Ausgewählt von Jens Reitemeyer.

Zu der Fotoarbeit von Richard Renaldi, „Touching Strangers“, schrieb Teju Cole in seinem Essayband „Vertraute Dinge, Fremde Dinge“: „Die narrative Kraft der Bilder in Touching Strangers rührt daher, dass hinter ihren unaufgeregten Oberflächen plötzlich die bohrenden Fragen unserer Gegenwart erscheinen“. Wortwörtlich bezogen auf Sebastian Wells Bild, entnommem der Serie „Moria brennt„, ist es hier die geschmolzenen Oberfläche einer Decke, hinter der sich im griechischen Flüchtlingslager im September 2020 ein Drama abspielte (Das Lager wurde 2015 auf der Insel Lesbos für 2.800 Bewohner eingerichtet. Am 8. September 2020 brannte das Lager fast völlig aus, wodurch die meisten der 13.000 Bewohnern obdachlos wurden.). In dieser sehr reduzierten wie ruhigen Komposition verdeckt sie – gleich einem Theatervorhang – den letzten Akt einer fast antiken Tragödie, in der einige Protagonisten „in eine so ausweglose Lage geraten sind, dass sie durch jedwedes Handeln nur schuldig werden können.“

Im Bild sind die unmenschlichen Zustände im Lager oder die Verzweiflung der Menschen nicht zu sehen, und doch erahnt man sie aus den Brandspuren. Und je länger man sich in die fast ästhetisch anmutenden Oberfläche vertieft, desto stärker wird die von Teju Cole beschriebene „narrative Kraft„ – indem das Foto mehr erzählt, als eigentlich zu sehen ist und einem das Gefühl beschleicht, man würde den Brandgeruch riechen.

Vielleicht war die Decke einer der wenigen Gegenstände, den die Menschen auf Ihrer Odyssee über das Mittelmeer dabei hatten. Sie diente ihnen als Schutz vor Kälte, als improvisiertes Zeltdach und später als Sichtschutz, um in dem völlig überfüllten Lager noch eine wenig Privatssphäre zu erhalten. In dem Foto wird sie nun zum Sinnbild der humanitären Krise, einem Scheitern eurpopäischer Flüchtlingspolitik.

Darin liegt für mich die besondere Stärke der Fotografie – besonders in diesem Bild, aber auch in den anderen Fotos von Sebastian Wells: in ihrer Vielschichtigkeit können sie soviel aufzeigen und erzählen, auch wenn der Titel des Fotos nur aus zwei Worten besteht.

Foto: Isadora Kosofsky aus der Serie Senior Love Triangle. Ausgewählt von Sina Opalka.

Jeanie and Will kiss steht unter diesem Foto auf der Webseite der Fotografin Isadora Kosofsky.

Ein Kuss, wie er mich als Betrachterin sofort erreicht. Fast spüre ich ihn auf meinen Lippen. In diesem Kuss scheint sich alles zu verdichten. Zwei Leben, zwei Schicksale, eine Begegnung. Er wird zur Notwendigkeit, in ihm liegt etwas unausweichliches, denn er ist Ausdruck von so vielem; Lust, Liebe, Bedürfnis. In der Zeit stehen geblieben, während sich drumherum die Welt weiter in ihrem gewohnten Tempo dreht.

Ich stelle mir vor, den Beiden auf der Straße zu begegnen. Ich würde stehen bleiben, ich bin mir sicher. Ich würde hinschauen und Freude empfinden, vielleicht sogar Trost. Denn zwei augenscheinlich alte Menschen so voller Liebe und Zuneigung zu sehen ist ein Ideal. Wer wünscht sich dies nicht? Ihre innige Umarmung und die Dringlichkeit des Kusses werden zum Sinnbild von Jugendlichkeit, die nicht an Alter gebunden ist. Wenn ich rauszoome aus dem Kuss, dann wird es bunt und strahlend. Wie ein Filmset, möchte man meinen. Aber nein, es sind Jeanie, 81 und Will, 84, die sich in einem Altersheim kennen und lieben gelernt haben. In der Realität ist nichts für ewig und die Bewusstwerdung über die Endlichkeit kann sehr schmerzhaft, ja geradezu furchteinflößend, sein. Daher ist es für mich immer wieder sehr ergreifend, wenn die Fotografie es schafft, mir eine Kostprobe dessen zu geben, was ich mir unter Ewigkeit vorstelle. Dieses Foto löst genau das in mir aus. Es berührt mich auf vielen Ebenen und, allem voran, bringt es mich zum lächeln.