Nahaufnahme Anne Barth

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Sonja Neuschwander – aus der Bildredaktionsklasse 2023/2024 – bat die Fotografin und OKS-Studentin Anne Barth uns einen Einblick in die Entstehung einer ihrer Arbeiten zu geben.

Das hier gezeigte Bild ist Teil meiner Serie FOG, einem Essay über die Alzheimererkrankung meines Vaters. Ich suche hierzu schon seit einigen Jahren Bilder seines Alltags, die für mich seine Erkrankung auf eine verschobene, manchmal auch etwas rätselhafte Weise widerspiegeln.
 
Jemanden, der an Demenz erkrankt ist, über längere Zeit zu begleiten ist wie der Versuch, den Inhalt eines Eimers Sand mit den Händen festzuhalten. So sehr man sich auch bemüht, es funktioniert nicht, der Sand rinnt einfach durch die Finger.
Dem erkrankten Menschen mag es ähnlich gehen. Er ist sich seiner Erkrankung vor allem zu Beginn die meiste Zeit bewusst, aber vermag es nicht, Erinnerungen und Fähigkeiten wie logisches Denken oder Abstraktionsvermögen festzuhalten. Wesenszüge verändern sich, Bekanntes wird fremd – mitunter bedrohlich. Demenz hat sehr unterschiedliche Ausprägungen, Verläufe und Geschwindigkeiten aber schreitet ohne Hoffnung auf Besserung stetig fort. Für Betroffene und Angehörige ist es nie leicht.

Alzheimer kann dazu führen, dass man sich selbst nicht mehr klar sieht und weiß, dass etwas nicht stimmt. Alles Vertraute verschwindet langsam, wird undeutlich und schwer zu fassen. Das erzeugt Orientierungslosigkeit und Angst. Menschen aus dem nahen Umfeld können mit Hinweisen, Notizen und Routinen Ankerpunkte schaffen, damit weiterhin ein Zurechtkommen möglich ist. Für meinen Vater übernimmt meine Mutter mit viel Hingabe diesen Teil. Sie ist die Schlüsselfigur in seinem Leben. Sie gibt ihm Halt, Sicherheit und Vertrauen. Sie fängt auf, was nicht mehr funktioniert, hilft, Normalität und Würde zu wahren und nimmt sich selbst dabei stark zurück. Nur durch sie und ihren großen Einsatz ist es für ihn möglich, in großer Geborgenheit zu Hause zu leben.

All das zeigt für mich dieses Bild. Die beiden, zusammen. Die Ruhe, die mein Vater ausstrahlt, er ist ganz bei sich, geerdet, und klar in diesem Moment. In meiner Serie ist es das einzige Bild, in dem er direkt in die Kamera schaut. Und meine Mutter, die ganz nah bei ihm ist und sich gleichzeitig streckt, um noch den nächsten Ast zu erreichen. Immer in Bewegung, kaum mehr auf festen Füßen stehend, schon fast mit dem Hintergrund verschmelzend. Für ihr und für sie beide. Nicht in einem Setting, das von Hast und Sorge geprägt ist, sondern in einer friedlichen, blühenden Umgebung.

Anne Barth (*1982, lebt in Berlin) ist eine freie Fotografin und verschränkt in ihrer Praxis konzeptionelle Ansätze mit poetischen Motiven und Stimmungen. Sie arbeitet außerdem regelmäßig mit NGOs zusammen und dokumentiert politisch-gesellschaftliches Geschehen. Sie hat an der Fotoakademie-Koeln studiert und war im Jahr 2020 Stipendiatin des Landes NRW, Deutschland.

IG: @annebarthphoto; www.annebarth.de