Exposed: Julius P. Stoye

Sonja Neuschwander – aus der Bildredaktionsklasse 2023/2024 der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) – spricht mit dem Fotografen und OKS-Studenten Julius P. Stoye über seine Arbeit „while we kissed on fallen pines“.

Was hat dich zu dieser Bildserie motiviert? 

In vielerlei Hinsicht ist Osteuropa eine eigene spirituelle Wahlheimat geworden. Ich liebe die Landschaft, das Essen und die Menschen. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Ukraine, sondern ebenfalls für die anderen Regionen. Osteuropa enthält für mich etwas Ungezähmtes, fast schon natürlich Ursprüngliches mit vielschichtigen Kontrasten. Die Zerstörung durch den Angriffskrieg bestürzte mich zutiefst, und ich konnte auch die vermehrt auftretende Affinität zur russischen Regierung einiger Deutscher nicht nachvollziehen. Krieg ist Zerstörung und Leid, niemals eine Lösung. 

Durch die Fotoreihe „I’m not a victim, I’m a survivor“ der OKS-Schülerin und guten Freundin Oleksandra Bienert hörte ich von den tragischen Fluchtgeschichten ukrainischer Frauen nach Deutschland, darunter ihrer Mutter. Sie entwarf selbstständig eine Reiseroute über sichere Zonen, um diese in Sicherheit zu bringen. 

Es entstand der Gedanke, eine entgegengesetzte Reise zu beginnen was auf großen Anklang bei ihr stieß. Fokus der Reise sollte sein, wie junge Erwachsene (20-30 Jahre) mit der gegenwärtigen Situation (Invasion, Krieg etc) leben und Umgang damit finden. 

Mit einem festgesetztem Thema habe ich die Reise nicht angetreten, es entstand aber sehr schnell die Fokussierung auf Menschen „meiner“ Altersgeneration und die Verwirklichung sowie Umsetzung des eigenen Lebens in Kriegszuständen. 

Ich sehe mich übrigens überhaupt nicht als Kriegsfotograf, sondern als jemand, der die Gesellschaft in diesem Krieg fotografiert. Ich war jetzt schon zwei Mal in der Ukraine, im November 2022 und dieses Jahr von Februar bis März. 

Wie kam es zum Titel der Bildserie? 

Eine amüsante Geschichte. Die erste Fahrt war eine reine Odyssee. In Warschau wurde ich beim Umstieg vom Busfahrer hinausgeworfen – Es wären – fälschlicherweise – nur Frauen und Kinder erlaubt. Vermutlich wollte er Schmiergeld von mir. 

Nach zwei Tagen konnte ich dann über Umwege doch meine Reise fortsetzen. Im Bus sprach mich dann eine junge ukrainische Frau an, die offenbar einen Gesprächspartner in ihrem Alter suchte. Mit einer gebrochenen Mischung aus Englisch und Deutsch konnten wir uns so bei der langen Fahrt die Zeit vertreiben. Gerade Themen wie Heimat und erste Liebe – sie wuchs bis 2014 in Kiev auf – waren Schwerpunkte unserer Konversation. Erinnerung, Verlust, Heimkehr – Das Gespräch wirkte inspirierend auf den Titel der Fotoreihe. 

Welches ist ein Schlüsselbild der Serie für dich? 

Ein Schlüsselbild ist für mich auf jeden Fall das Bild mit dem nebligen Weg mit dem Tor. 

Hier wird einem bewusst, dass sind alles neue Gräber. Die wurden alle seit der Invasion neu angelegt. Auf den Grabsteinen ist meistens ein Foto mit eingearbeitet, und so läuft man durch die bebilderten verlorenen Seelen durch. Dieses Bild ist für mich so ausschlaggebend, da hier das menschliche Leid besonders deutlich wird. Der Nebel hat für mich die Atmosphäre bestimmt und die Einsamkeit des Ortes noch unterstrichen. Das Bewusstsein, dass das Leben endlich ist und sehr schnell endlich werden kann, ist mir an diesem Ort nochmals bewusst geworden. 

Auch wenn sich das jetzt alles sehr deprimierend anhört: ich hatte eine gute Zeit dort. Mein Kontakt dort ist Band-Fotograf und wir waren auf einigen Konzerten. Es ist noch immer eine hohe Lebensfreude vorhanden. Es wird gefeiert, getrunken, gestritten, geliebt. Das Leben geht auch weiter.

Ich sehe die Ukrainer:Innen auch nicht als Opfer, sondern als Menschen, die sich bewiesen haben, die Widerstand leisten können. Wichtig war mir hier, dass ich nicht nur Gräber und zerschossene Autos fotografieren wollte, sondern auch die Menschen, die trotzdem Lebensfreude bewahren und trotzdem weitermachen. 

Was war dann das Ausschlaggebende, dass du dich für Fotografie entschieden hast? 

Das ist eine schöne Frage, da habe ich mir auch schon einige Gedanken gemacht. Ich bin in erster Linie riesiger Filmfan – Gerade im Arthouse-Genre. Das osteuropäische Kino liefert mit Kiezlowski, Pawlikowski und Tarkovski wunderbare Vorlagen für fotografisch-perspektivische Ideen. Inhaltlich werden da auch meistens sehr einfach gehaltene, humane Geschichten erzählt die im Verlauf des Filmes eine immense Tiefe entwickeln. 

Ein Foto manifestiert einen Moment, ein Gefühl oder Intuition. Es hat keine festgelegte Zeitschiene, da es Vergangenes, wie auch Aktuelles thematisieren kann. Hier liegt die innere Schönheit der Fotografie – Das Unabhängige. Fotografie ist Sprache. Ein Kriegsversehrter bleibt auch nach hundert Jahren ein schreckliches Motiv, die künstlerische Aufarbeitung des Inhaltes aber immer eine Fluktuation. Darin liegt die Kunst, diesen einen Moment zu finden. Die Fotografie ermöglicht es für mich zum einen die Welt durch die Kamera durch ein anderes Auge zu sehen. Die Interaktion mit Menschen und Objekten ändert sich für mich wenn ich sie mit einer Kamera betrachte/sie fotografiere. Außerdem ermöglicht mir die Fotografie mich mit Menschen und Themen auseinanderzusetzen, mit denen man so vielleicht nie in Kontakt gekommen wäre. Fotografie ist Meditation. 

Vielen Dank für die Einblicke und das nette Gespräch! 

Julius P. Stoye, Jahrgang ’95, gebürtiger Berliner und derzeit Student im Orientierungssemester bei Peter Bialobrzeski an der Ostkreuzschule für Fotografie.
Die Liebe zur Fotografie entdeckte ich mit neben meinem großen Filminteresse mit ungefähr 15/16 Jahren und begann mich zunächst hobbymässig mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ein großer Zusatzfaktor war das fotografische Interesse und Wissen meiner Mutter, da ich vorher weder Namen noch Methoden wichtiger Fotografen der Zeitgeschichte kannte. 
Nach meinem Abitur studierte ich zunächst Philosophie in Greifswald, Mecklenburg Vorpommern, wusste aber innerlich, dass ich die Fähigkeit, Lyrik und menschliche Schicksale mittels Bildern cinematographisch reflektieren zu können, für mich im Vordergrund steht, also bewarb ich mich noch während des aktiven Studiums 2020 an der Ostkreuzschule und wechselte im Anschluss.