OKS-lab fragt Stefan Weger

Luise. Archäologie eines Unrechts“ ist die Geschichte des Polens Walerian Wróbel der 1941 als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter zur Zwangsarbeit auf den Hof von Stefan Wegers Urgroßmutter Luise geschickt wird.  Auf dem Hof bleibt er nur 10 Tage, er bekommt Heimweh, plötzlich brennt die Scheune. Die Bäuerin lässt ihn von der Gestapo abholen. Er wird ins KZ Neuengamme gebracht und am 25. August 1942 im Alter von 17 Jahren hingerichtet.

Stefan Weger begibt sich – anhand seiner eigenen Familiengeschichte – auf eine fotografische Spurensuche nach neuen Antworten auf die Frage nach Schuld und Verantwortung im Nationalsozialismus. Er sammelt historisches Material, sowohl aus staatlichen als auch privaten Archiven und fotografiert großformatig an Originalschaupätzen. Es entsteht ein dichtes, ergreifendes Werk, dass bei den Betrachter:innen ein Gefühl des Unwohlseins auslöst. 

Anja Dinges aus der Bildredaktionsklasse hatte die Gelegenheit mit dem Fotografen Stefan Weger und der Bildredakteurin Julia Brigasky über die Arbeit und die Entstehung des Buches zu sprechen. Julia Brigasky leistete darüber hinaus mit ihrer bildredaktionellen Arbeit einen großen Beitrag durch die Edition der Bilder im Buch. 

Faule Frucht, 2019, Foto: Stefan Weger

ANJA: Hallo Julia, Hallo Stefan, ich gratuliere euch herzlich zum Fotobuchpreis.

Stefan, du hast dir während der Arbeit an deinem Buch die Bildredakteurin Julia Brigasky mit ins Boot geholt. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

STEFAN: Ich stand an einem Punkt, an dem ich nicht so recht wußte wie ich weitermachen sollte. Die ganze Zeit hatte ich viel Bildmaterial gesammelt und fragte mich „Wie bekomme ich das Puzzle jetzt zu einer Geschichte zusammen?“ Ich habe Robert Gemming gefragt, einen Klassenkameraden, ob er mir hilft und der brachte Julia mit. Julia besuchte damals die Bildredaktionsklasse der Ostkreuzschule für Fotografie und editierte eine Bildstrecke von Robert für das Buch „Edited-2020“.

JULIA: Das war eine super Chance für mich und auch schon etwas Besonderes, weil es meine erste Arbeit als Bildredakteurin war. Robert nahm mich mit und hat mich dabei schon vorgewarnt: „Julia, es sind viele Bilder“. „Ja, ja, das ist keine Problem“ meinte ich. Als wir dann aber in der OKS ankamen und Stefan seine Bilder auspackte, waren plötzlich alle Tische voll und es gab immer noch mehr Stapel in verschiedenen Boxen. Da wurde mir klar: „OK, es gibt wirklich viele Bilder, das wird spannend!“

STEFAN: Ich hatte zwischendurch den totalen Hänger und war so verzweifelt mit meiner eigenen Arbeit, dass ich keine Hemmungen hatte, ihr alles auf den Tisch zu legen. Da waren auch viele schlechte Bilder dabei. Den Mut muss man haben, seine schlechten Bilder zu zeigen.

JULIA: Wir haben dann alles angeschaut und besprochen. Ich habe Stefan zu jedem Bild Fragen gestellt, um herauszufinden, warum ist das Bild in der Auswahl, warum ist das für ihn wichtig. Oder gibt es vielleicht ein anderes Bild, das die selbe Situation darstellt, nur eben noch stärker ist. 

STEFAN: Ja, ich erinnere mich, du hast mich gezwungen jedes Bild zu begründen, was echt ein bisschen genervt hat, aber es tat auch gut. 

Erst als uns dann bewusst wurde, was der eigentliche narrativer Kern ist, löste sich mein Knoten. Es wurde uns klar, dass es die 4 Jahreszeiten sind, dass es um das Entdecken geht und um die Dramaturgie des Prozesses der schlußendlich zum Todesurteil geführt hat. Daran hangelten wir uns entlang und sortierten die Bilder komplett neu.

Man hätte diese Geschichte auch auf x andere Arten erzählen könne. Es tat mir auch so leid um die vielen Bilder die jetzt nicht im Buch sind. Wir konnten sie nicht alle unterbringen, weil wir dann das Gefühl bekamen, dass es sich sonst von den Bildkategorien her zu weit auffächern würde.

ANJA: Wie viel Bilder sind letztendlich im Buch?

STEFAN: 88-90 sind im Buch.

Foto: Stefan Weger

ANJA: Julia, wie war die Arbeit mit Stefan und was war die größte Herausforderung für dich?

JULIA: Die Frage: „Schaffe ich das?“ und die unglaubliche Menge an Bildern und “Bilderwelten“, die so viele Möglichkeiten für die Erzählung der Geschichte eröffnen. Es war eine Herausforderung heraus zu destillieren, welche Bilder unerlässlich sind und auf welche Bilder wir vielleicht verzichten können. Ich habe versucht, das im Gespräch mit Stefan zusammen herauszufinden. Es gibt Bilder über die haben wir bis zum Andruck diskutiert. 

Es ist ja außerdem eine sehr persönliche Arbeit, zu der viel Mut gehört, da kann ich nicht mit der Brechstange vorgehen. Ich musste vorsichtig abtasten, wie Stefan die Geschichte erzählen möchte. Der Blick von außen soll kritisch aber auch wertschätzend sein. Es ist mir wichtig sich gut zu verstehen und offen sein zu können, ohne dass der oder die andere sich auf die Füße getreten fühlt. Ich finde, dass hat mit Stefan super geklappt. 

STEFAN: Dadurch, dass Julia als ausgebildete Bildredakteurin einen ganz anderen Blick auf Bilder hat, keinen grafischen Blick, sonder viel mehr einen narrativen Blick, hat sie eine ganz andere Perspektive reingegeben. Julia hat mich da super weitergebracht. Dadurch, dass wir darüber geredet haben, welche Bilder zur Geschichte gehören und warum. Auf der anderen Seite gibt ja auch Bilder, die sind vielleicht ganz schön, aber erzählen einem eben nichts. 

JULIA: Wir lernen in der Bildredaktionsklasse bei Nadja Masri, dass unser Raum in der Klasse ein Safe-Space ist, dass dort erst einmal alles gesagt und gezeigt werden kann, ohne dass jemand verbal „draufhaut“, oder wertet. Es ist mir sehr wichtig, erst einmal zu hinterfragen und zuzuhören und dann zu diskutieren. Es geht darum, zu verstehen und nicht direkt zu bewerten.

ANJA: Über welchen Zeitraum ist das Buch entstanden und wie seit ihr vorgegangen?

JULIA: Es gab mehrere Tages-Session, ich weiß gar nicht mehr wie viele es waren. Es war gut über viele Stunden am Stück zu arbeiten, um sich wirklich in die Materie hineinzudenken.Gleichzeitig haben wir auch mal ein paar Wochen Pause gemacht, um wieder Abstand zu gewinnen und das Ganze sacken zu lassen. Sehr geholfen hat, dass wir uns einfach insgesamt viel Zeit dafür nehmen konnten. Es ist ja auch kein leichtes Thema, die intensive Auseinandersetzung mit Stefans eigener Familiengeschichte und die unglaubliche Fülle und Dichte des Bildmaterials. 

Für die Ausstellungs- und auch Buchgestaltung, war es uns vor allem wichtig, als narrativen Kern den Gedanken des Entdeckens zu transportieren. Wir haben überlegt wie wir die Geschichte erzählen wollen und wie wir den Protagonisten Walerian Wrboel in die Geschichte eingeführen. Wir waren uns einig, dass man am Anfang eben erst einmal in dieses „Entdecken“ reinkommen soll, ähnlich wie Stefan das Thema für sich entdeckt und entwickelt hat. Gleichzeitig war es für uns essentiell, dass auch gleich ein Unwohlsein beim Betrachter mitschwingt, dass wir also Bilder zeigen die die Idylle der Landschaft brechen gleich zu Anfang bereits Fragen aufwerfen.

Es wurde dann zusammen mit den beiden Grafikerinnen noch einmal sehr akribisch auf jedes Detail geschaut. Wo sitzt welches Bild genau, wie sind die Abstände. Die Gestalterinnen haben natürlich auch einen sehr großen Anteil am Erfolg des Buches.

Abstände, 2019. Unter Verwendung der Fotografie Die von Wrobel gelegten Brand- herde mit der Signatur StAB, 4.89/5, 207

ANJA: Wie hat deine Familie das Buch aufgefasst? Lebt Luise noch?

STEFAN: Leben tut sie nicht mehr, aber ich habe sie noch erlebt. Hinten im Buch ist ein Foto von ihr mit mir drin.  

Die Reaktion meiner Eltern war erst: „Junge, warum musst du jetzt diese Geschichte rausholen, was sollen die Leute denken.“ Aber es hat auch eine Art heilsamen Prozess ausgelöst, bis dahin, dass sie jetzt in der Ausstellung in Neugammel mitgeholfen haben die Wände aufzubauen.

ANJA: Stefan, du schreibst auf deiner Webseite, dass es um Versöhnung geht, dass Unwohlsein dahin führt, dass man in den Dialog kommt. Was hat die Arbeit mit dir gemacht?

STEFAN: Ich finde, dass es unheimlich wichtig ist, emotional mit der Geschichte mitzuwachsen. Es ist nicht einfach, dass an sich ranzulassen. Natürlich gab es auch Zeiten, die unheimlich hart für mich waren. Es gibt das Foto von Walerian hinten im Buch, welches am Tag vor seiner Hinrichtung entstanden ist. Das Foto stammt aus dem Hamburg Staatsarchiv und befindet sich in einer Sammelakte von ca. 5-8cm Dicke. Darin liegen alle Fotos von den Leuten, die in dieser Zeit dort hingerichtet worden sind. Du siehts alles…. jedes einzelne Gesicht, du siehst jedem dieser Menschen in die Augen. Wenn einem das nicht nahe geht, dann weiß ich auch nicht … Ich hatte Tränen in den Augen.

Natürlich wächst man emotional mit der Geschichte mit. Es hat eine abstrakte Bedeutung, Orte, Sachen und Dinge zu sehen und anzufassen, die damals schon da waren, so wie meine Großmutter sie schon gesehen und angefasst hat. Da entsteht eine große Emotionalität für mich. 

Julia: Es ist für mich unfassbar erschreckend, wie gründlich dieser Fall aufgearbeitet wurde. Ich konnte es gar nicht fassen, dass es noch dieses Streichholzschächtelchen gibt, mit dem Walerian gezündelt haben soll. Das sowas so lange aufgehoben wird! Die deutsche Gründlichkeit, in einem absurden, menschenfeindlichen Maß.

ANJA: Auf dem Cover ist deine Urgroßmutter gespiegelt zu sehen, wie entstand die Idee zum gespiegelten Cover?

STEFAN: Ganz einfach, es war ein technischer Unfall. Wenn du mit der Großformatkamera fotografiert und dabei nicht 100% aufpasst, kann das schon einmal passieren. Ich habe aus Versehen zwei mal dasselbe Negativ belichtet.

JULIA: Komplexe Geschichten wie diese kann man nicht 1:1 erzählen und auch nicht rein dokumentarisch. Darum sind die künstlerischen Großformatbilder sehr wichtig, die geben noch einmal einen anderen Aspekt ins Buch. Es ist auch großartig, dass es so viel historisches Bildmaterial aus Stefans Familienarchiv gibt. Es packt den Betrachter emotional noch einmal ganz anders und gibt einen absoluten Mehrwert.

Baum im Frühling, 2020, Foto: Stefan Weger

Anja: Gab es Rückfragen zum Edit?

Stefan: Ja, vor allen gab es Fragen, warum Walerian nicht die Hauptperson spielt.

Es hat die Leute irritiert, dass er nicht die Hauptperson ist. Wenn es um das Gedenken der NS-Zeit geht, geht es in allerersten Linie vor allem um die Opfer. Aber ein Großteil der Leute die damals im Einflussgebiet des deutschen Reiches gelebt haben, sind keine Opfer, sondern Nachfahren von aktiven Tätern. Es sind passive Tätern, Mitläufer, Nutznießern usw. Ich finde es elementar wichtig, dass die Geschichten dieser Menschen auch ihren Raum bekommen, um einen Dialog zu befördern. Da passiert abseits der Fotografie etwas zwischenmenschliches.

ANJA: Ich finde, das Großartige an deiner Arbeit ist, dass sie zum Nachdenken anregt und Menschen ins Gespräch bringt. Es löst was aus. Es ist toll, wenn man sowas erreicht. 

STEFAN: Es ist mir wichtig, dass Luise noch als Privatperson gesehen wird und nicht nur als die böse „Nazi-Alte“, die den Jungen auf dem Gewissen hat. Ich wollte aufzeigen, wie leicht das passieren kann. Wie leicht man sich auch heutzutage schuldig machen kann, wenn man blind seinen eigenen, egoistischen und ökonomischen Interessen folgt.

Es ist eine Entscheidung, man kann sich in die eine oder in die andere Richtung entscheiden. Das ist es, was es so aktuell macht. Man hat immer die Möglichkeit sich zu entscheiden.

ANJA: Julia und Stefan, was möchtet ihr den jetzigen Studierenden / Absolventen mitgeben durch die Erfahrung, die ihr mit diesem Projekt gemacht habt?

STEFAN:  Den Mut zu haben, auch schwierige Themen anzugehen, auch abseits der Wege, obwohl die Leute sagen: „Hey, das bringt nichts“ und dabei seine eigene Bildsprache und seinen eigenen Stil zu entwickeln. Es ist absolut wichtig sein persönliches Thema zu finden, da wo es euch hinführt. 

Mut dahin mit mehr Bildredakteur/innen zusammenzuarbeiten, unabhängig von der Zusammenarbeit mit dem eigenen Dozenten. Bildredakteur*innen haben noch einmal einen anderen Blick auf Bilder. Ich finde es wichtig, dass unterschiedliche Leute sich die Bilder ansehen und unterschiedliche Sachen rein lesen, da nimmt man immer wieder viele Ideen mit. Es ist auch gut, dass alles was du im Kopf hast, noch einmal jemand außenstehenden erklären zu müssen. 

Und schlussendlich natürlich: „Keine Angst vor schlechten Bildern“.

JULIA: Und ich würde ergänzen: Keine Angst vor vielen Bildern und vor Neuem! Es ist eine tolle Chance für angehende Bildredakteur*innen, an der OKS mit vielen ganz unterschiedlichen Fotograf*innen zusammenarbeiten zu können – und ich kann nur empfehlen, sich mit vollem Elan hineinzustürzen!

ANJA: Herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch!

Faule Äpfel, 2019, Foto: Stefan Weger

Die Arbeit entstand in den Jahren 2018 bis 2021 und war zum ersten Mal 2020 im Rahmen der Abschlussausstellung VIERZEHN im Treptow Atelier zu sehen. Parallel dazu publizierte Stefan Weger das Buch im Selbstverlag. Die Gedenkstätte Neuengamme erkannte die Qualität und präsentierte die Bilder vom 11. Nov – 13. März 2022 in seinen Räumlichkeiten.

Stefan Weger ist Dokumentarfotograf und Photojournalist aus Berlin. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule füt Fotografie Berlin arbeitet u.a. für den Berliner Tagesspiegel. Stefans persönlichen Projekte verfolgen soziale und politische Themen mit einem subjektiv-dokumentarischen Ansatz.

Julia Brigasky ist Absolventin der Bildredaktionsklasse 2020-21 und arbeitet derzeit als freie Bildredakteurin, u.a. für den Berliner Tagesspiegel.

Autor