Nahaufnahme: Tilman Vogler

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Eva Neukirchner aus der Bildredaktionsklasse 2021/22 bat den Fotografen und Mitglied der Bildredaktionsklasse Tilman Vogler darum, uns einen Einblick in die Entstehung seines Fotos zu geben:

Foto: Tilman Vogler

Dienstag, der 9. Februar 2016. Ich befinde mich in Nicaragua. Ausgestattet mit Kamera, Mikrofon, Notizbuch und einem Rucksack mit dem Essentiellen begleite ich in diesen Wochen Aktivisten auf einer Aufklärungskampagne. Ziel ist es, Einwohner*innen in entlegenen Gegenden von einem Regierungsprojekt zu berichten, das auch ihr Leben betreffen könnte. Dieses Foto zeigt einen kleinen Ausschnitt der Reise:

Nach zwei Tagen Reise per Bus, auf LKW-Ladeflächen, wenig Schlaf und zuletzt drei Stunden auf einem motorbetriebenen Holzboot, befinden wir uns fern jeder Infrastruktur im entlegenen Osten Nicaraguas. Heute morgen hieß es dann plötzlich: alle aufsitzen! Zwar saß ich als Kind einige Male auf dem Pferd meines Großonkels, doch von Reitfähigkeiten zu reden wäre mehr als vermessen. Nun gut, es klappt tatsächlich und wir reiten inzwischen seit einem halben Tag im Nieselregen durch die unwegsame Landschaft. Irgendwann höre ich auf die endlosen Hügel zu zählen, denn das Auf und Ab wiederholt sich immer wieder. Schmerzende Knie und durchnässte Klamotten. Wir passieren Bäche, Fincas, Rinderherden, Mais- und Bohnenfelder – und eine Giftschlange.

Gelegentlich kommen wir durch „echten“ Regenwald, von dem in dieser Gegend nach Jahrzehnten der Abholzung nicht mehr viel übrig ist. Hier gibt es nur kleine Wegschneisen und Lianen hängen uns ins Gesicht. Und dann ist da plötzlich dieser Sumpf vor uns und mir erschließt sich im ersten Moment gar nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Doch meine Begleiter handeln, als sei es das normalste auf der Welt. Wir nutzen einen schmalen, rutschigen Ast und balancieren hinüber. Für unsere Esel bzw. Pferde bleibt nichts anders übrig, als irgendwie stapfend hindurch zu gelangen. Ich stehe in diesem Moment bereits „am anderen Ufer“ und sehe nun staunend zu, wie die Tiere zuerst in den Schlamm sinken, dann aber wohlauf wieder hinauswaten. Weiter gehts, den nächsten Hügel hinauf.

Ich möchte kurz auf den Hintergrund der Reise eingehen. Die Regierung des damals schon autoritär regierenden Präsidenten Daniel Ortega hatte drei Jahre zuvor eine Lizenz für den Bau eines interozeanischen Kanals durch das Land an einen dubiosen Investor aus China verliehen. Laut offizieller Lesart: ein Projekt für mehr Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Dem entgegen standen und stehen wissenschaftlich begründete Warnungen vor massiven ökologischen und sozialen Folgen. Ich reiste nach Nicaragua, wo ich nach dem Abitur ein Jahr als Freiwilliger verbracht hatte, um den Stand und die Auswirkungen dieses Projekts zu dokumentieren. Während meiner Recherche traf ich auf die Aktivisten des “Consejo Nacional en Defensa de Nuestra Tierra, Lago y Soberanía” (frei übersetzt: Nationaler Rat zur Verteidigung unseres Landes, Sees und der Souveränität.) Sie waren zu dieser Zeit unterwegs, um Menschen in entlegenen Gegenden über das „Kanal-Gesetz“ und dessen mögliche Folgen (u.a. Enteignungen) aufzuklären. Das Gesetz besteht zwar weiterhin, ist jedoch in den Hintergrund geraten, seit sich die allgemeine politische Lage in Nicaragua 2018 dramatisch verschlimmert hat.

Tilman Vogler lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin und ist Teil der Bildredaktionsklasse 2021/22. Er hat einen B.A. in Politikwissenschaften und ist interessiert an gesellschaftspolitischen und persönlichen Themen – am liebsten erzählt in tagebuchartigen Fotoessays und Dokumentarfotografie.