Ein schönes Bild – Teil 2

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jede*r der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das er*sie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihm*ihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“
Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Natalie Krick

Aus der Serie Natural Deceptions von Natalie Krick. Ausgewählt von Anna Merten.

Kaum eine Beziehung im Leben prägt uns mehr als die zu unserer Mutter. Auf dem Foto von Natalie Krick sehen wir zwei Frauen – Mutter und Tochter, genauer gesagt: Die Fotografin Natalie Krick und ihre Mutter. Farben und Bildgestaltung sind bei diesem Foto sorgfältig komponiert –  schrill und bunt ist das Foto und macht immer wieder Lust es anzuschauen. Aber das Bild hat eine weitere, vor allem emotionale Ebene. Es erzählt von der innigen Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die in diesem Bild fast zu einer Person verschmelzen. Sie sind aneinander geschmiegt und doch liegt jeder für sich. Während uns die Augen der Mutter mit einem starken Blick fesseln, schaut die Tochter ins Leere. In diesem Bild steckt für mich alles, was die Beziehung zu den eigenen Eltern ausmacht: Wir schwanken zwischen Liebe, Nähe, aber ebenso Rebellion und Abgrenzung. Wie ein Pendel, das sich zwischen diesen Polen hin- und her bewegt, schwanken auch oft meine eigenen Empfindungen zu meinen Eltern.

Foto: Hannes Jung

Aus der Serie How is Life von Hannes Jung. Ausgewählt von Caroline Scharff.

Auf den ersten Blick wirkt es poetisch: ein nächtlicher Himmel voller Engel, die in die Höhe steigen. Doch irgendwie liegt dem Bild etwas Beunruhigendes inne. Man fängt an, sich die vermeintlich fliegenden Gegenstände genauer anzusehen und stellt fest: man kann sie nicht exakt definieren. Es könnten christliche Kreuze sein oder Mücken; vielleicht auch nur Staub auf dem Boden, da sie Schatten werfen? Das Bild von Hannes Jung aus seiner Strecke How is life? gibt seine Metaebene erst wirklich preis, wenn man weiß, dass sich die Strecke der hohen Selbstmordrate in Litauen widmet. Dieses Bild erschließt sich schnell als Allegorie für all die Geschichten, die hinter den Leben der Menschen in Litauen stehen und sich dazu entschieden haben, sich selbst umzubringen. Ein Bild, das beschreibt, dass uns alle eins vereint: nach dem Leben erwartet uns der Tod. Alle haben denselben Weg vor sich. Doch wenn man genau hinsieht, entdeckt man, dass doch jedes einzelne Detail anders ist und seine eigene Spur hinterlässt.

Das Bild ist ein inhaltlich gewichtiges Symbolbild, dass das Leben und den Tod auf eine Art vereint, die weder kitschig, noch aufgesetzt ist, sondern modern erzählt ist.

Foto: Amiko Li

Aus der Serie Maiden Voyage von Amiko Li. Ausgewählt von Winifred Chiocchia.

Das Bild, das ich gewählt habe, wurde von dem chinesischen Fotografen Amiko Li aufgenommen und ist Teil seiner Fotoserie Maiden Voyage. Es handelt sich um ein visuelles Tagebuch, welches der Autor über diverse Jahre hindurch verfasst hat, um die ihn umgebende Welt und die in ihr innewohnenden feinen Zusammenhänge zu dokumentieren.

Rätselhaft und poetisch zugleich, zeigt das Bild die Berührung von zwei Paar Händen. Wem diese Hände gehören, wissen wir nicht. Angesichts der Kleidung und Haare, können wir erahnen, dass die Protagonistin im Vordergrund eine Frau ist. Die Figur hinter ihrem Rücken können wir uns nur vorstellen.

Indem Amiko Li einen flüchtigen Moment verewigt, erzählt er von dem komplizierten, zerbrechlichen und unermesslichen Universum der menschlichen Beziehungen.

Die Hände berühren sich, halten einander aber noch nicht fest. Das Bild wird von einer tiefen Ruhe beherrscht, erzeugt durch die meisterhafte Anwendung von Licht und Gestaltung. Gleichzeitig ist aber eine beständige, wenn auch hauchdünne und durchaus nicht unangenehme Spannung wahrnehmbar. Der Augenblick ist vollkommen. Wir befinden uns genau auf halbem Weg zwischen dem Wunsch, dass der Händedruck sich verstärken möge und der Erleichterung, dass der Augenblick noch andauert.

Das Bild trägt den Titel Parachute, was im Deutschen „Fallschirm“ bedeutet. Vielleicht wollte der Fotograf einfach durch den Titel und das Bild selbst andeuten, dass die Beziehung zu einem anderen Menschen für uns zu einem Zufluchtsort vor der Welt werden kann. Dennoch, wenn ich das Bild betrachte, kann ich nicht umhin, eine noch weiterführende Überlegung anzustellen, die an unsere Gegenwart und an die Betrachtung von uns selbst gebunden ist.

Es gehört zur Natur des Menschen, sich vor allem auf das Ziel seiner eingeschlagenen Wege und Aktionen zu konzentrieren. Dieses Foto bringt mich dagegen dazu, an die leisen Augenblicke dazwischen zu denken, daran, wie kurz sie andauern und daran, wie groß hingegen ihr Wert ist. Ich habe gelesen, dass Amiko Li oft das Wort Saudade benutzt, wenn er über seine Fotografie spricht. Das Wort ist nur schwer zu übersetzen. Häufig finden wir in der Übersetzung den Begriff Melancholie, seltener wird Saudade durch „die Liebe, die bleibt“ übersetzt. Wahrscheinlich beeindruckt mich dieses überaus eindrucksvolle Bild so stark, gerade weil es mich an die Liebe erinnert, die nach jeder kleinen, flüchtigen Entscheidung bleibt.    

  

Foto: Andreas Schoettke

Ein Bild von Andreas Schoettke. Ausgewählt von Zarko Matovic.

Das Bild zeigt auf den ersten Blick eine junge Frau vor weißer Wand – nichts Besonderes oder Außergewöhnliches. Dennoch fängt es meinen Blick ein und hält ihn fest. Wenn ich an gute Portraits denke, dann denke ich auch immer an dieses Foto.

Ich betrachte das Foto immer wieder und beginne etwas zu erkennen, was sich auf der Oberfläche versteckt hält. Die Gesichtszüge der Frau sind weich, obwohl sie nicht grazil sind. Es stellt sich ein Gefühl von Stärke ein, welches die junge Frau selbstbewusst gegen das harte Licht ankämpfen lässt. Der konzentrierte, neutrale Blick lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Durch das verdeckte Auge jedoch beginne ich zu glauben, dass da noch etwas ist, was mir die Person nicht offenbaren möchte. Und das, obwohl sich in dem Licht nichts verstecken lässt. Selbst das Hemd scheint zu offenbaren, was es verstecken soll, aber ich suche weiter nach der Person, die ich auf dem Bild sehen soll. Ich suche einen weiteren Hinweis um im Bild zu verweilen, einen weiteren Hinweis, auf das Geheimnis, auf das was sie der Kamera nicht offenbart, obwohl sie klar zu erkennen ist. Gerade dieses Machtspiel von Geheimnis und Offenbarung sorgt dafür, dass ich nicht wegschauen kann, obwohl ich es möchte. Ich möchte das Rätsel auflösen!

Deshalb ist es ein schönes Bild. Es packt mich und veranlasst mich, hinter die offensichtlichen Sichtbarkeiten zu schauen und zeigt mir mehr, als ich sehen kann.

Foto: Muzi Quawson. Courtesy the Artist and Annet Gelink Gallery, Amsterdam

Aus der Serie Pull Back the Shade von Muzi Quawson. Ausgewählt von Barbara Bauer.

Für ihre Serie Pull Back the Shade begleitete Muzi Quawson zwischen 2002 und 2006 die junge in Woodstock lebende Musikerin und Mutter Amanda Jo Williams. Die Fotos dokumentieren Amandas Beziehung zu ihrem Partner und ihren beiden Zwillingstöchtern während sie gemeinsam die USA bereisten.

Besonders fasziniert mich an dem Foto, dass es sowohl technisch als auch inhaltlich an ein Filmstill aus einem amerikanischen Film der 1970er Jahre erinnert. Das Bild gibt den Spirit dieser Zeit wieder und vermittelt zugleich ein Gefühl von Freiheit. Das Cruiser-Bike und das Hotdog-Schild in Verbindung mit der leichten Entsättigung, vor allem in den hellen Bereichen, und dem leichten Sepiafilter erzeugen diesen Retro-Look.

In der Flucht ist die typische Geradlinigkeit einer amerikanischen Vorstadt zu erkennen. Die geringe Tiefenschärfe lenkt den Blick auf den Vordergrund: auf die Protagonistin und ihr Kind, die in Bewegung sind. Durch diese, zum rechten Bildrand gerichtete Dynamik, wirkt das Bild wie einer unvollendeten Kamerabewegung entnommen und dadurch in der Bewegung eingefroren. Der filmische Eindruck verstärkt sich, weil das innere Auge automatisch versucht diese Bewegung zu vollenden.

Als die Serie 2006 im Tate Britain ausgestellt wurde, zeigte die Fotografin die gesamte Reihe in einer Slideshow, durch die der filmische Charakter der Fotos zusätzlich unterstrichen wurde. In nachfolgenden Ausstellungen wurden die Fotos in Leuchtkästen ausgestellt, so dass der Eindruck verstärkt worden ist, es handele sich bei den Fotos um ein Filmstill.

Foto: Aapo Huhta

Ein Bild von von Aapo Huhta. Ausgewählt von Ariane Rosenberg.

Der finnische Fotograf Aapo Huhta begab sich 2013 mit einem visuellen Kollektiv, bestehend aus drei weiteren Fotografen, auf eine Reise entlang der westlichen Seite der finnisch-russischen Grenze, um dort die Orte und ihre Menschen zu erkunden. Sein Ziel war es, eine Verbindung zwischen der sagenumwogenen Vergangenheit und dem, was heute noch vorhanden ist, einzufangen. In der Region kursieren viele mythische Folkloregeschichten. Dieser Mythologie zufolge sei der Geburtsort der gesamten Menschheit in Kainuu.

Heute ist Kainuu das Gebiet mit der höchsten Selbstmordrate in Finnland, mit Spannungen zwischen der freien Marktwirtschaft und dem Totalitarismus, sowie starkem Bevölkerungsrückgang.

Das Foto aus der Serie Ukkometso zeigt ein Mädchen in einem mit einer amerikanischen Flagge bedruckten Jumpsuit und pinken Crocs, das an einem Spätsommerabend allein mit ihrem treuen Begleiter auf der Straße unterwegs ist. Der Nebel und der violette Himmel transportieren für mich die mystische Seite der Gegend – das Bild wirkt ein wenig surreal, beruhigend und suggestiv zugleich.

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