Ein schönes Bild – Teil 2

Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als „schön“ zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön“ nicht vorkommt. Jede*r Bildredakteur*in sollte ein Bild auswählen, das sie*er in dem vergangen Jahr „entdeckt“ hat und begründen, warum ihr*ihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie*ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.

Fotograf Christopher Capozziello

Foto: Christopher Capozziello

Aus der Serie The Distance Between Us, fotografiert von Christopher Capozziello.
Ausgewählt von Gilbert Waller

Christopher Capozziellos Zwillingsbruder Nick gibt einer Frau Feuer. Eine vertraute Situation der Kontaktaufnahme, die einen erneuten Blick braucht, um die Ungereimtheiten darin zu erkennen. Die verkrümmte Hand Nicks, der leicht infantile Blick. Das Bild gewinnt an Spannung. Wer ist dieser Nick? In Chris Capozziellos Serie The Distance Between Us erfahren wir, dass sein Zwillingsbruder Nick an infantiler Zerebralparese leidet und von spastischen Anfällen heimgesucht wird. Eine „normale“ zwischenmenschliche Beziehung ist dadurch zum Scheitern verurteilt. Das Bild berührt mich tief. Was, wenn ich dieses Leben führen müsste?
Das Foto wirkt intim, nicht voyeuristisch. Die gezeigten Personen agieren natürlich. Es ist ästhetisch komponiert und technisch perfekt. Alle Graustufen sind zu erkennen. Christopher Capoziello trifft den entscheidenden Augenblick. Beide vor schwarzem Hintergrund – die Berührung im Licht. Möchte Christopher Capoziello das Schicksal beschwören, Nick aus der Dunkelheit ins Licht zu führen?

Fotografin Iveta Vaivode

Foto: Iveta Vaivode

Aus der Serie Opera, fotografiert von Iveta Vaivode.
Ausgewählt von Viktoria Fahrnleitner

Oper, Theater, Bühne, kurz: Inszenierung auf beiden Seiten. Akteure und Zuschauer verabreden sich in einem Raum, stellen Ansprüche, generieren Erwartungshaltungen und sind bereit, sich entführen zu lassen. In eine andere Wirklichkeit, in ein Mysterium, in eine Fantasie. Für mich transportiert dieses Bild aber nicht nur die Gründe, warum Menschen auf der Bühne arbeiten und als Publikum in Rängen sitzen wollen; ich tauche sofort ein: In diese Luft voll feinstem Staub aus schwerem Samt und fliegendem Puder, vermischt mit Parfum, Orchestermusik, schleifenden Spitzenschuhen, geschlossenen Augen und Erinnerungen, die aufsteigen und irgendwo unter dem Deckengewölbe aufeinandertreffen. Das Bild, aufgebaut in sichtbare und unsichtbare Ebenen, lässt Schärfe auf Verschmelzung treffen, Dunkelheit auf Helligkeit, Wirklichkeit auf Traum. Und doch ist da eine Klarheit, die mich festhält, mich den einen flüchtigen Moment erhaschen lässt, als spähte ich durch einen Guckkasten, und wüsste dadurch mehr als alle Anderen. Daher funktioniert dieses Bild für mich – sofern man den Begriff zulassen will – perfekt als „demokratische Manipulation“: Ich kann mich sinnlich darauf einlassen oder nüchtern den Überblick bewahren, es lässt mir die Wahl.

Fotograf Andy Spyra

Foto: Andy Spyra

Aus der Serie Kaschmir, fotografiert von Andy Spyra.
Ausgewählt von Claudia Lenz

Eine Frau steht in Srinagar, Kaschmir, vor einer Mauer und streckt dem Betrachter bettelnd ihre Hände entgegen. Sie ist muslimische Witwe und erhält keinerlei finanzielle Unterstützung, weder von der Familie des Mannes noch von der Regierung und ist daher auf Almosen angewiesen. Hinter ihr, an der Wand, befinden sich Plakatreste sowie ein Graffiti; die Hände des Graffitis scheinen mit der Frau im Tschador eine neue, komplexe Figur zu bilden und verleihen ihr dadurch etwas Magisches, Dunkles, Suggestives. Dieses Foto könnte ein Filmstill sein, aus einem Stummfilm der zwanziger Jahre. Die formalen Aspekte Licht, Schatten, Formen und Strukturen bzw. die daraus entstehende Dynamik könnten auch den Film Noir oder den Surrealismus zitieren. Andy Spyras wuchtige Bilder in kontrastreichem, stark moduliertem Schwarzweiß haben oft eine filmische, fast fiktionale Anmutung und bieten dem Betrachter einen Genre- und Zitatenmix. Diese Interpretationsmöglichkeiten kann man in diesem Bild lesen, muss man aber nicht – und das macht die wahre Stärke aus, denn: runtergebrochen auf das erzählerische Element, sind die Fotos sagenhaft gute, dokumentarische Momentaufnahmen, Beobachtungen, die einfach und emotional verdichtet erzählen und berühren. Und das immer – räumlich wie auch im übertragenen Sinne – unglaublich nah dran.

Fotograf Giuseppe Moccia's

Foto: Giuseppe Moccia

Aus der Serie A Third Landscape?, fotografiert von Giuseppe Moccia.
Ausgewählt von Tina Ammendolia

Giuseppe Moccias Foto vom Matterhorn, aufgenommen von der Spitze der Furggen Seilbahn, ist das letzte aus seiner Serie A Third Landscape?. Es zieht dich langsam in seinen Bann und lässt dich mit einer Reihe flüsternd gestellter Fragen zurück.
Moccias Bild erzählt eine Geschichte. Ich kann A Third Landscape? nicht betrachten, ohne Italiens gegenwärtige soziale und ökonomische Situation vor Augen zu haben. Das Bild erzählt jedoch gleichzeitig von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Das Echo einer längst vergangenen Zeit ist stark zu spüren. Der Ausblick vom Matterhorn erinnert an alte Schwarzweiß-Aufnahmen von Ski-Urlauben.
Die ungesättigte Farbe des Fotos arbeitet mit der Erinnerung an die schwarzweiße Vergangenheit, während die subtilen Töne uns mit stiller Magie daran erinnern, dass wir uns in der Gegenwart befinden. Während das Foto unsere Vergangenheit reflektiert und uns unsere Gegenwart bewusst macht, lädt es zugleich in eine noch unbekannte Zukunft ein. Indem es auf subtile Weise mit Nostalgie arbeitet, ohne darin stecken zu bleiben, öffnet das Bild sich selbst für neue Bedeutungen und schafft einen wortlosen Dialog.

Foto: Rob Hornstra

Foto: Rob Hornstra

Aus der Arbeit „An Atlas of War and Tourism in the Caucasus”, fotografiert von Rob Hornstra.
Ausgewählt von Nadine Bunge

Der triste, gekachelte Raum strahlt eine sterile und beängstigende Stimmung aus, die noch verstärkt wird durch die martialisch wirkende Badewanne mit einer Vielzahl an Schläuchen und Apparaturen. Und inmitten dieser Wanne sitzt ein verunsichert wirkender Junge. Was passiert hier eigentlich?
Der Fotograf Rob Hornstra hat dieses Bild in einem Sanatorium in Matsesta aufgenommen, einem Nachbarort von Sotschi in Russland. Aus unserer Perspektive wirkt dieser Behandlungsraum veraltet, ungepflegt und wahrlich nicht kindgerecht. Und doch ist es für den portraitierten Dima wichtig, dort zu sein, denn täglich bekommt er eine Behandlung; für sechs Minuten läuft ihm Heilwasser über seine verbrannten Beine.
Es sind aber nicht die Wunden des Jungen, die im Fokus des Bildes stehen, sondern die Situation als solche, in der er sich befindet, was wiederum durch den klaren Bildaufbau und die blasse Farbgebung unterstützt wird.
Das Bild stammt aus „An Atlas of War and Tourism in the Caucasus“, dem Bildband zum „The Sochi Projekt“. Gemeinsam mit Filmemacher Arnold van Bruggen arbeitete Rob Hornstra von 2009 bis 2013 an diesem Projekt, einer Dokumentation über die Vorbereitungen auf die Olympischen Winterspiele 2014. In diesem Zeitraum dokumentierten sie die Veränderungen des Austragungsortes und der gesamten Kaukasus-Region durch das Großevent. Das Projekt zeigt nicht nur die Auswirkungen der massiven baulichen Veränderungen, sondern widmet sich insbesondere den komplexen gesellschaftlichen Bedingungen in dieser Region sowie den sozialen Problemen, mit denen große Teile der dortigen Bevölkerung nun konfrontiert sind. Dieses Bild und die gesamte Serie verdeutlichen eine ernüchternde Realität einer Olympiastadt in einem autoritären Staat, der keine Kosten und keinen Aufwand scheut, der Welt perfekte Spiele zu präsentieren. Oberflächlich mag dies gelingen. Rob Hornstras Bilder sprechen eine andere Sprache.


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