Ein schönes Bild – Teil 1

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als „schön“ zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön“ nicht vorkommt. Jede*r Bildredakteur*in sollte ein Bild auswählen, das sie*er in dem vergangen Jahr „entdeckt“ hat und begründen, warum ihr*ihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie*ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Fotografin Kaja Smith

Foto: Kaja Smith

„Erik“, aus der Serie Goldkinder, fotografiert von Kaja Smith.
Ausgewählt von Andreas Obermann
Der siebenjährige Erik ist Turner. Mehrere Stunden täglich verbringt er in einer Berliner Leistungssportschule, trainiert dort an seinem Lieblingsgerät, an zwei hölzernen Ringen, die von der Decke hängen. Schließlich möchte er später als Turner mal Medaillen gewinnen, am liebsten goldene. Der Blondschopf ist zwar noch ein Kind – er lässt sich locker und nur mit einer grauen Trainingshose bekleidet ablichten – aber seine dunklen Augen strahlen schon etwas Erwachsenes aus. Sein Blick ist ganz klar und fokussiert. Damit durchdringt der Athlet geradezu sein Gegenüber und vertauscht auf diese Weise die Rollen: vom Beobachteten zum Beobachter. Zusammen mit seiner geraden Körperhaltung und seinen nach oben angewinkelten Armen wirkt Erik ikonisch; so könnte er auch später auf dem Siegertreppchen bei den Olympischen Sommerspielen stehen.

Brødrene

Foto: Elin Hoyland

Aus der Serie Brothers, fotografiert von Elin Hoyland.
Ausgewählt von Alena Siamionava

Die Fotografin Elin Hoyland begleitete sieben Jahre lang das Brüderpaar Harald und Matthias, die gemeinsam – und doch einsam – schon immer auf einem kleinen Bauernhof irgendwo in Norwegen gelebt haben. Alle Portraits zeigen sie im privaten, vertrauten Umfeld.
Die Komposition dieses Bildes ist so faszinierend wie wirkungsvoll: Die Körper bilden eine vollständige Symmetrie, die durch den rhythmischen Wechsel von durchbrochenen Linien und geschlossenen Formen verstärkt wird. Starke Hell-Dunkel-Kontraste unterstreichen zusätzlich die ausgeprägte Dramatik von Gestik und Mimik. Dabei vermittelt das Bild die Verbundenheit und den Familienzusammenhalt der Brüder, dokumentiert jedoch auch ihre Isoliertheit und simple Lebensweise.
Berührt hat mich dieses Bild vor allem durch seine intime und persönliche Blickrichtung beider Seiten. Zwei wunderliche Menschen, ein Outsider-Paar, deren innige Beziehung zueinander aus dem Rahmen des Herkömmlichen fällt; eingefangen durch die dramatische Umsetzung der Fotografin erzählt das Bild für mich sogar über das Leben im Allgemeinen!

Franco_Pagetti_Veiled_Aleppo

Foto: Franco Pagetti

Aus der Serie The Veils of Aleppo, fotografiert von Franco Pagetti, Agentur VII Photo.
Ausgewählt von Annette Streicher

Aleppo – die Stadt, in der der Bürgerkrieg in Syrien am schlimmsten wütet. Ein Ort, aus dem wir gewohnt sind, blutige Bilder zu sehen: Von Zivilisten, die niedergestreckt wurden von Snipern, bloß weil sie eine Kreuzung überqueren wollten, vielleicht, um Brot zu besorgen? Und dann das: Diese Arbeit von Franco Pagetti! Auf dem Bild eine menschenleere Straße, sichtbar das Ausmaß der angerichteten Zerstörung und mittendrin hängen einfache, bunte Leinentücher! The Veils of Aleppo heißt die konzeptuelle Arbeit: Verschleiertes Aleppo, könnte man übersetzen. Und tatsächlich: Es sind Schleier, hinter denen sich Menschen verbergen können, gezogen wie Vorhänge mitten über die Straßen einer geschundenen Stadt. Tücher, die Schutz bieten vor dem Zielfernrohr der Scharfschützen. Schleier, die den Unterschied machen können zwischen Überleben oder sicherem Tod. Überall hängen die traditionellen Leinen in den Gassen, vor zerschossenen Fassaden, und Pagetti hat eine ganze Serie dem immer gleichen Motiv in Variationen gewidmet: Rot-gestreift, grün-gestreift, blau-gestreift. Durch die fast eintönige Wiederholung und klare Bildsprache gewinnt seine Arbeit für mich eine ungeheure Kraft: Pagetti gelingt es, das Ausmaß der Katastrophe, das Leid in dem Bürgerkriegsland, aus dem derzeit Millionen Menschen fliehen müssen, sichtbar zu machen, ohne Elend, Blutvergießen oder Tod selbst zu zeigen. Die Schleier – oder besser Stofffetzen? – von Aleppo: Durch sie scheinen gleichermaßen Aussichtslosigkeit und ein Rest Hoffnung: im unbedingten Willen der Bewohner, zu überleben, irgendwie.

Fotograf Abdullahi Mohammed

Foto: Pieter Hugo/Michael Stevenson Gallery

„Abdullahi Mohammed with Mainasara“, aus der Serie Hyena and Other Men, fotografiert von Pieter Hugo/Michael Stevenson Gallery.
Ausgewählt von Massimo Rodari

Das Foto erzählt von einem Gadawan Kura, einem Hyänenmann. Sie leben mit Hyänen, Pythonschlangen und Pavianen in einem Vorort der nigerianischen Hauptstadt Abuja. Als Gaukler und Medizinmänner, die das Volk mit ihren Tieren unterhalten, verkaufen sie Pulver und Amulette. Sie zerren die Hyänen der Savanne aus ihren Höhlen und machen sich die vermeintlich unzähmbaren Tiere mit Betäubungsmitteln und Stockhieben gefügig. Pieter Hugo zeigt in diesem Bild die Wirklichkeit der wuchernden Großstädte Afrikas. Es prallt die schwarze Magie der Naturreligionen auf Hip-Hop-Kultur. Die Faszination des Bildes liegt in einer apokalyptischen Stimmung. Es zeigt den Kampf der Hyäne in der Gefangenschaft sowie den Kampf des Menschen im Schatten der Moderne. Nüchtern und statisch hat Pieter Hugo den Hyänenmann porträtiert. Das Bild ist zu sehen in dem Buch „Pieter Hugo – This must be the place“, erschienen im Prestel Verlag.

Andrew_McConnell-Gaza_Surf_Club

Foto: Andrew McConnell

„Asam Abo A‘ase and Amer Al Dous enter the sea from Gaza City“, aus der Serie Gaza Surf Club, fotografiert von Andrew McConnell.
Ausgewählt von Matthias Erfurt

Vielschichtig und nicht leicht verständlich ist dieses Bild. Es fügt sich damit in die Komplexität des Ortes ein, an dem sich diese eigentümliche Szenerie ereignet. Immer dann, wenn Gaza und die anderen palästinensischen Autonomiegebiete Thema in der medialen Berichterstattung sind, wird unser kollektives Bildergedächtnis aktiviert und gefüttert mit Aufnahmen des gewaltsamen und Jahrzehnte andauernden Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern.
Andrew McConnell hingegen bricht mit den eingefahrenen Sehgewohnheiten und zeigt eine ebenso ungewöhnliche wie überraschende Tatsache in einem Gebiet, das die lokale Bevölkerung als „the biggest open-air prison on Earth“ bezeichnet. Er dokumentiert den Gaza Surf Club, eine kleine Gemeinschaft von Surfern im Gaza-Streifen, die dem eingeengten und entbehrungsreichen Alltag den kurzen Moment einer sehnsuchtsvoll erwarteten guten Welle entgegenstellen. Es scheint die Weite und Unbegrenztheit des Meeres zu sein, die sie hier alle anlockt aus der rauhen Enge der Straßen, Plätze und Wohnblocks: Die Surfer, der einen Schwimmreifen tragende Mann am linken Bildrand, die anderen badenden Männer dahinter und sogar ein im Wasser stehendes Pferd in der Bildmitte.
McConnell zeigt in diesem Bild und in seiner Serie eindrucksvoll eine nahezu unbekannte und positiv stimmende Seite im Leben der Palästinenser. Hier sind Wünsche und Träume, aber eben auch die harte Realität auf subtile Weise miteinander verwoben und deutlich erkenn- und spürbar.

Fotograf Arnhel de Serra

Foto: Arnhel de Serra

Aus der Serie When The Sun Set Over The Royal, fotografiert von Arnhel de Serra.
Ausgwählt von David Dörrast

Der Bildaufbau ist genauso skurril wie der Bildinhalt: Rund 90 Prozent im Bild nimmt das Hinterteil eines Bullen ein – davon ein beachtlicher Anteil Hoden. Dahinter steht ein schrulliger Typ im weißen Kittel, der von dem mächtigen Tier an den Bildrand gequetscht wird. Dadurch, dass der Mann auch räumlich weiter weg vom Fotografen steht und somit noch kleiner wirkt, wird der massige Eindruck des Bullen verstärkt. Zur „Krönung“ trägt der Bulle eine absurde Siegerschärpe um den Rumpf. Das Foto stammt aus der Serie When The Sun Set Over The Royal, die der spanisch-britische Fotograf Arnhel de Serra auf verschiedenen englischen Preisshows und Messen fotografiert hat. Die ganze Fotostrecke ist einfach zum Totlachen, was teilweise an den Eigenheiten der Engländer liegt, aber vor allem daran, mit welch großartigem Humor Arnhel de Serra die Szenerie in Relationen setzt.


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