Ein schönes Bild – Teil 2

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird, ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jede*r der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das er*sie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihm*ihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Lydia Metral

Aus der Serie Les insouciants von Lydia Metral. Ausgewählt von Laila Maria Geibig. 

Dieses Bild ist mir zufällig begegnet und ich konnte nicht wegschauen. In erster Linie war es die Pose, welche eine unfassbare Stärke ausstrahlt. Und dieser Blick – ich habe versucht, ihn zu deuten und wurde neugierig. Es trifft so vieles aufeinander, die Tiefenschärfe, das Make-up, der Schmuck, die Nacktheit. Und doch scheint sich in der Stärke auch Verletzlichkeit zu verbergen. Ich schaue eine Person an, die für mich durch bloßes Auftreten Schönheit neu definiert. Lydia Metral möchte Menschen, die sich abseits der gesellschaftlichen Norm fühlen, auf Augenhöhe begegnen und ihre Einzigartigkeit porträtieren. Gerade in der heutigen Zeit lernen wir vermehrt mit Themen wie Transidentität umzugehen. Auch wenn das Bild in meinen Augen bereits ganz objektiv „schön“ ist, verleihen ihm die Menschen vor und hinter der Kamera noch eine viel größere Schönheit: Schau mich an, das bin ich. Les insouciants bedeutet übrigens die Sorglosen. Auf dem Foto: Virginia.

Foto: Giovanni Di Matteo

Aus der Serie I had to shed my skin von Giovanni Di Matteo. Ausgewählt von Lina Mackeprang.

Vielleicht irgendwas mit hundert oder doch mehr oder weniger. Immer wieder kann ich das Zählen der Tomaten neu anfangen und immer wieder ist mein Ergebnis ein anderes. Ich verliere mich zwischen Form und Farbe. Eigentlich ist Rot die Farbe der Warnung, aber auch eine Farbe der Stärke, Freude und Dynamik. In all dem, was ich sehe, empfinde ich eine absolute Ruhe. Ich sehe Giovanni Di Matteos Reisen, lese seine Geschichten, die er von jenen Roadtrips, wie er sie selbst nennt, mitbringt. Seine Fotografie scheint simpel. Glänzende Tomaten auf einem karierten Küchentuch mit einem kleinen Riss im Stoff, liegend auf einem dunklen Holztisch. Nicht mehr. Ich rieche die frisch geernteten Tomaten, bereit, nach dem langen Heranwachsen in der Sonne Italiens, verspeist zu werden. Die Fantasie ist voll mit einer Geschichte, die kurz meine ist. Gerade wenn das Leben laut ist, die Informationen mich übermannen, und die Schwere überwiegt, ist meine Sehnsucht des Sehens nach Ruhe enorm. Matteo Di Giovannis Fotografie Untitled #15 gibt mir diese kurze Pause, und am wertvollsten ist, dass sie wartet und ich sie immer wieder hier finden werde. Vielleicht brauchst du gerade auch diese Pause, hier ist sie. 

Foto: Stefan Frank

Aus der Serie Irgendwo von Stefan Frank. Ausgewählt von Nina Dörner.

Ein einsames Haus in der Sonne. Schwarz-weiß. Zeitlos. Im oberen linken Viertel die Fassade des Hauses. Das Sonnenlicht fällt auf die Hauswand und das einzig sichtbare Fenster reflektiert das gleißende Licht. Im Kontrast dazu befinden sich rechts dichtes Gestrüpp und Bäume, die das Haus mitsamt ihrer Schatten anzuknabbern scheinen. Die untere Hälfte des Bildes ist dunkel und leer. Im Vordergrund lässt sich eine Wiese erahnen. Das Bild wirkt bedrohlich. Der Schatten eines Zaunes, der auf die Betonwand fällt, will uns vor dem Zutritt warnen. Drei Kreuze, zwei in der Mitte der Fassade, wirken wie Zielscheiben oder Markierungen, und das Fenster, ein leuchtendes Rechteck, verstärkt das unheimliche Gefühl, das den Zuschauenden beschleicht. Welches Geheimnis liegt im Inneren des Hauses verborgen und was geschieht hinter den Mauern, dessen einziger Einblick uns durch die Spiegelung verwehrt bleibt? Das Haus steht, wie auch die anderen Orte dieser Serie von Stefan Frank, Irgendwo. Und dennoch ist dieses Irgendwo kein Zufall. Frank ist für die Serie an Orte in Deutschland gereist, an denen rechtsextremistische Anschläge stattgefunden haben. München. Hoyerswerda. Rostock-Lichtenhagen. Kassel. Istha. Halle. Hanau. Idar-Oberstein. Heidelberg. Kusel. Münster. Dunkle Orte, die für eine dunkle Geschichte und leider auch Gegenwart stehen. Orte, an denen Schreckliches passiert ist. Und doch: Das Licht, reflektiert vom Fenster des Hauses, trifft die Netzhaut des Betrachtenden und lässt das Dunkel im Hintergrund zurück. Hoffnung. 

Foto: Rania Matar

Aus der Serie Fifty years later – Where do I go? von Rania Matar. Ausgewählt von Caroline Feigl.

Der erste Blick auf dieses Bild erzeugte in mir ein leicht verstörendes Gefühl, weil es Fragen aufwarf. „Warum liegt diese schöne junge Frau in ihrer festlichen Erscheinung schlafend inmitten von Trümmern in einem verfallenen trockenen Pool?“, „geht es der Frau gut?“ oder „wo ist das?“. Die tief stehende Sonne hüllt die Szene in warmes, romantisches Licht. Eine sehr positive Lichtstimmung, die eigentlich ebenso positive intrinsische Stimmungen hervorruft. Blau in verschiedenen Nuancen dominiert das Bild im Himmel, dem Pool, im Meer und in ihrem festlichen Kleid – gebrochen von dem Beige in den Trümmerteilen und ihrer Haut. Schönheit und Verwüstung prallen hier direkt aufeinander. Diese Gegensätze erzeugten eine ständige Dissonanz in mir. Die würdevolle Erscheinung und Mimik der Frau sowie die Farbigkeit des Bildes haben einerseits eine beruhigende Wirkung auf mich – kurzzeitig –, denn meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die Trümmer, den Verfall und eine gewisse Verletzlichkeit. So drehen sich meine Gedanken immer wieder im Kreis und es gibt keine Antwort. Die Fotografin und Architektin Rania Matar schafft mit ihren gemäldeartigen Bildern eine Hommage an Frauen im Libanon, die trotz des Krieges geblieben sind, der sich 2025 zum 50. Mal jährt. Matar selbst ist auch im Libanon geboren und entschied sich 1984 in die USA zu gehen. Ihre Arbeit beschreibt aus libanesisch weiblicher Sicht ein Leben von libanesischen Frauen, das es nicht mehr gibt. Dieses Bild mit Lujain wurde 2023 im Long Beach Club in Beirut aufgenommen. In den 1950er bis 1970er-Jahren war der Club ein trendiges Strandresorts, der dazu beitrug, dass Beirut als „Paris des Nahen Ostens“ bezeichnet wurde. Der Long Beach Club wurde im libanesischen Bürgerkrieg zerstört. Lujain bezeichnet sich selbst als „Rahhala“ (eine Wanderin), weil sie ihr Leben zwischen dem Libanon, dem Irak, Syrien und anderen Ländern verbracht hat – von einem Konfliktgebiet zum anderen.

Foto: Marysia Myanovska

Aus der Serie Oh brothers where art thou? von Marysia MyanovskaAusgewählt von Julia Otto.

Eine Gruppe junger Menschen auf einem Dach. Sie blicken in verschiedene Richtungen und doch verbindet sie alle das gleiche Schicksal. In ihrem Land herrscht Krieg. Dennoch spüre ich Vertrautheit und Wärme statt Angst und Verzweiflung. Aus der Mitte des Bildes plötzlich ein intensiver Blickkontakt, der bleibt. Die Fotografie von Marysia Myanovska entstand im Rahmen ihrer Serie Oh brothers where art thou? 2022 in Kiew und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Der fast zufällig wirkende Bildausschnitt erweckt den Eindruck einer Filmszene. Sie spielt in Trojeschtschyna, einem Stadtteil, in dem die Fotografin 1994 geboren wurde und zusammen mit ihrem älteren Bruder aufwuchs. Der Bruder verkörpert eine neue Generation Jugendlicher in der unabhängigen Ukraine der 90er-Jahre, die als verloren galt. Sex, Drogen, Kriminalität und MTV – nach dem Motto: schnell leben, jung sterben. Marysias Bruder starb 2018. In ihrem Projekt geht es darum, wie Zeit und Ort das Schicksal eines Menschen beeinflussen. Sie nutzt ihre eigenen Erinnerungen an ihren Bruder, um über dieselben Orte heute nachzudenken. Dafür stellt sie Fragmente seiner Biografie nach, um zu untersuchen, wie sich die junge Generation in den letzten 15 Jahren verändert hat. Marysia Myanovska schafft durch das genaue Beobachten und ihre Erinnerungen Bilder, die auf mehreren Ebenen funktionieren – auf der persönlichen, der emotionalen und der politischen. Mit ihren einfühlsamen Porträts zeichnet sie ein differenziertes Bild einer Jugend, die stark und zerbrechlich zugleich ist. 

Foto: Olaf Otto Becker

Aus der Serie Above Zero von Olaf Otto Becker. Ausgewählt von Friederike Schönfeld.

Das Bild von Olaf Otto ist genial. Thematisch stark und KI trügerisch. Es ist auf den ersten Blick ein einfaches Landschaftsbild, welches aber so reich an Kontrasten ist, dass es bizarr, surreal und sehr interessant auf mich wirkt. Zum einen sehen wir die hügelige, unglaubliche Weite Grönlands, umhüllt von einem weiß-grauen Schneeschleier, der durch die Pfütze im Vordergrund auf Plusgrade hinweist. Jedoch verleiht es zunächst erstmal Kühle und ich als Betrachterin ziehe mir schnell einen dicken Wollpullover über. Die organischen Konturen, die sich bis zum Horizont bewegen, geben dem Bild die Natürlichkeit, wie wir es aus einer Landschaftsaufnahme zu kennen scheinen. Gleichzeitig wird sie jedoch durch die abgebildeten Personen wieder genommen. Sie erscheinen unreal. Bildlich sowie kontextual. Das Thema: Klimaerwärmung – durch den Menschen ausgelöst. Und der steht nun hier im schmelzenden Schnee und posiert stolz um die Erinnerung da gewesen zu sein, festzuhalten und womöglich den Kindern zu zeigen: „Guckt mal, was wir kaputtgemacht haben! Und euer Vater kann sogar im T-Shirt im Schnee spazieren!“ Das war 2007. Wir haben das Jahr 2023. Bizarr, surreal oder interessant? Ein sehr ästhetisches, gelungenes Zeitzeugnis, welches wiederum zeitlos erscheint.

Foto: Luisa Dörr

Aus der Serie Imilla von Luisa Dörr. Ausgewählt von Ole Witt.

Riesige weiße Wolken, die Anden am Horizont und sechs junge Frauen in traditionellen bolivianischen Röcken, sogenannten Polleras, auf ihren Skateboards. Eine augenscheinlich ungewöhnliche Szene, die von der brasilianischen Fotografin Luisa Dörr 2021 in Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, festgehalten wurde. Die Authentizität des Moments in dem Foto ist faszinierend. Alle Frauen scheinen ganz bei sich und ihren Skateboards zu sein. Es ist unschwer zu erkennen, dass sie zusammengehören. Nicht nur wegen ihrer Kleidung, sondern auch aufgrund der Konzentration in ihren Gesichtern und der Hingabe zu ihrem Hobby. In ihrer Arbeit Imilla begleitet die Fotografin ein Skate-Kollektiv aus Frauen, bei denen Tradition und feministische Unabhängigkeit keinen Gegensatz darstellt. Imilla bedeutet auf Aymara und Quechua, den beiden am häufigsten gesprochenen indigenen Sprachen Boliviens, „junge Frau“. Seit 2019 existiert das Kollektiv und ihre neun Mitglieder wollen durch die Mischung von rebellischer Jugendkultur und traditioneller Kleidung ein Statement für Inklusion, Diversität und gegen Stigmatisierung in ihrem Land setzen. 

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