Ein schönes Bild – Teil 1

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird, ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jede*r der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das er*sie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihm*ihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Alana Paterson

Aus der Serie Skijoring von Alana Paterson. Ausgewählt von Tabea Dunemann.

SKI-HAW! Es war so ein typisch langsamer Nachmittag und während ich im Doomscrolling gefangen bin, überrumpelt mich plötzlich dieses Bild. Eine Reiterin, stehend auf dem Rücken zweier Pferde. Sie trägt einen hässlich-coolen Skianzug, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, wehendes Haar unter einer weißen Pelzmütze und sie sieht verdammt lässig aus. Was mich an diesem Bild bewegt? Dieses Foto wirkt so absurd erfrischend in meinen Algorithmus, der in letzter Zeit von sehr viel Ersthaftem bestimmt wird. Die so eigene Dynamik und Fähigkeit, Betrachter*innen zum Innehalten zu bewegen. Es steht für pure Neugierde. In einem Alltag, in dem wir fast jeden Tag eine gewaltige Bilderflut bewältigen, bearbeiten und verarbeiten müssen, ist dieses Foto ein Moment. Die verwirrende Dynamik der Szenerie ist spürbar (der Rest der Serie ist übrigens mindestens genau so spektakulär) und gibt mir für einen kurzen Moment das Gefühl, eine Pause zu nehmen vom Betrachten und Einordnen dessen, was in unserer derzeitigen (politischen) Weltlage alles schief hängt. Schlicht gesagt, ich habe einfach mal kurz den „Kopp ausgemacht“ und deswegen ist es ein schönes Bild für mich. Das abgebildete Szenario ist übrigens Teil einer Tradition, die sich jedes Jahr in der Nähe von Calgary in Kanada abspielt. Auf dem Millarville Racetrack, im Foothills County treffen sich jene, die das Skijoring nicht nur lieben, sondern leben. Ursprünglich handelte es sich hierbei um eine Tradition, die das erste Mal in den Altai Gebirgen in Zentralasien Erwähnung findet. Ein Skifahrer oder eine Skifahrerin wird auf Skiern über den Schnee gezogen und das erfolgt wahlweise mit Hunden, Pferden oder Trucks. Der Begriff selber leitet sich wohl aus dem norwegischen skikjøring ab (kjøring bedeutet „fahren”), wobei die Lappländer sich von Rentieren ziehen ließen, um weite Schneeebenen zu überwinden. In den 1920ern eroberte das Skikjøring die Nordicgames in Stockholm und 1928 die Olympischen Winterspiele in St. Moritz. Von da an war es nur noch ein kleiner Sprung nach Alberta, wo das Ganze zum Ranch-Country-Style enthoben wird und der Mensch nun stehend seine Kunststücke vollführt. Eben „Cowboy-Style“. 

Foto: Judith Weber

Aus der Serie Bluebird von Judith Weber. Ausgewählt von Julia Akimova.

Halbgeöffnete Augen. Ein schwerer Blick. Ein Blick voller Zuneigung, Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Ein Blick, der den Betrachtenden direkt mitnimmt. Die Aufnahme ist voll von Zärtlichkeit und Liebe: ein starkes Porträt eines sensiblen Mannes. Eines Mannes, der sich gerne verletzlich zeigt und sich nicht vor Intimität scheut. Er erlaubt es sich, sich schwach zu zeigen. Er öffnet sich. Eine Hand streichelt liebevoll das Gesicht des Mannes und gibt ihm dadurch Bestätigung, Akzeptanz und Hoffnung. Verletzlichkeit bei Männern ist ein komplexes und vielschichtiges Thema, das in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erhalten hat. Das Teilen von Emotionen und die Offenheit gegenüber Verletzlichkeit erfordern oft Mut und Stärke. Die Förderung eines positiven Dialogs über männliche Vulnerabilität trägt dazu bei, stereotypische Vorstellungen zu überwinden und einen unterstützenden Raum dafür zu schaffen. Das gelingt Judith Weber in ihrer Fotoserie Bluebird hervorragend. Judith ist eine Berliner Fotografin, die sich in der Serie mit dem Thema fragile Männlichkeit auseinandersetzt.

Foto: Fabian Ritter

Aus der Serie Youth of Kyiv von Fabian Ritter. Ausgewählt von Sonja Neuschwander.

Russische Truppen marschieren in die Ukraine ein. Das große Land fällt über das kleine Land her, weil der Verlust des Glanzes der Roten Fahne mit Hammer und Sichel unerträglich ist. Es ist der Februar 2022. Es ist kalt, es ist ein Angriffskrieg. Es sollte schnell gehen, doch alles kam anders. Menschen sterben, Menschen kämpfen, Menschen fliehen. Es fließen Blut und Tränen, doch versuchen die Menschen in dem kleinen aber stolzen Land trotzdem, ein Leben in ihrem Land zu führen. Tod und Zerstörung kommen von oben. Ein Denkmal steht durch einigen Stufen erhöht, es ist nicht sichtbar unter einer Holzverkleidung, die mit Sandsäcken am Fuß der Planken verstärkt wird. Ein schwacher Schutz für das „Wir“, dass sich in dem Denkmal verbirgt. Die Fassaden der Gebäude sind prächtig anzuschauen, die gemauerte Pracht aus der Vergangenheit ist quasi nackt, einige Fenster sind vernagelt und wirken allenfalls wie ein Lendenschurz im Tageslicht. Es findet kein Publikumsverkehr auf diesem Platz statt, die Drohung ist fast greifbar. Vielleicht gibt es kein Morgen. Im ihrem Hier und Jetzt zeigt das Bild aus Fabian Ritters Serie Youth of Kyiv zwei Jugendliche, die die große Fläche mit den breiten Stufen nutzen, unbeschwert und doch hoch konzentriert mit Ihren Skateboards Tricks üben und vollenden, auf die sie stolz sind und die gezeigt werden wollen, so wie die Blüten und Blätter der Bäume im Sonnenschein auf dem Platz. Dies ist jetzt ihr Platz, ihr Spielplatz. Hier wachsen die Kunststücke wie Zweige in Erwartung auf Morgen. Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, sie lebt am längsten.

Foto: Nancy Jesse

Aus der Serie No Man is an Island von Nancy Jesse. Ausgewählt von Tatiana Abarzúa.

Zauberhaft und mythisch, der grüne Himmel, fast wie die Anfangsszene eines Films. Die Farbigkeit des Lichts erinnert an Aquarellfarben, die auf einer Leinwand ineinanderfließen. Von einem erhöhtem Standort aus fällt der Blick auf eine Jurte, in hellem Licht erleuchtet. Daneben ein kleines Haus. Drumherum Felder, Gebüsch, Nacht – vom geheimnisvoll leuchtendem Himmel durch eine geschwungene, felsige Umrisslinie getrennt. Mit dem Kontrast zwischen dunkel und hell lenkt die Fotografin gekonnt den Blick der Betrachtenden. Durch die Lichtstimmung entsteht das Gefühl, nah dran zu sein. Gleichzeitig zeigt das Bildmotiv die Entlegenheit des Ortes. Das Foto überzeugt mich aufgrund der Komposition und faszinierte mich sofort, als ich es in der Ausstellung sah. Es gehört zur Nancy Jesses Abschlussarbeit, für die sie zweimal auf die Insel Eigg reiste, ihre Bewohner*innen porträtierte und die kleine schottische Insel erkundete. Es blieb mir lange in Erinnerung, deshalb habe ich es hier ausgewählt. Dabei sind es nicht nur die feierlichen Farbspuren des Nordlichtphänomens, die mich angesprochen haben. Es ist auch die Erzählung vom Wunsch nach elektrischer Autarkie. Denn Ende der 1990er-Jahre kauften die Bewohner*innen ihre Insel und begannen damit, sich genossenschaftlich zu organisieren – das betrifft auch ein lokales Kraftwerk. Wenn ich das Bild betrachte, habe ich den Eindruck, dass die Fotografin die Stimmung des Ortes sehr gut eingefangen hat. Mit absoluter Präsenz. Der entlegene Ort und das Fehlen von Hinweisen für eine zeitliche Zuordnung, gibt mir das Gefühl, dass es unwichtig ist, wann das Bild gemacht wurde. Deshalb hat es für mich eine universelle, zeitlose Ebene. Wer in die Fotoserie eintaucht, erfährt, dass die Inselbewohner*innen trotz ihrer hohen Identifikation mit ihrem Wohnort von den Dramen der Welt außerhalb des Inselkosmos berührt werden. Es sei auch auf einer Insel nicht möglich, der Welt zu „entfliehen“, sagt die Fotografin über die Zurückgezogenheit der Inselbewohner*innen.

Foto: Andreas Gefeller

Aus der Serie The Other Side of Light von Andreas Gefeller. Ausgewählt von Jens Keiner.

In trauriger Stimmung aus Sorge einen geliebten Menschen zu verlieren, begegnet mir zum ersten Mal das abstrakte Bild #037 des Düsseldorfer Fotokünstlers Andreas Gefeller aus der Serie The Other Side of Light. Ein Hochformat mit Langzeitbelichtung. Die Hauptelemente des Bildes sind wirbelnder Staub, der scheinbar aus zwei Quellen ins Bild geblasen wird. Durch die Langzeitbelichtung sind die Bewegungen des Staubs mit feinen Linien nachgezeichnet und bilden eine Art choreografisches Zusammenspiel zwischen den beiden Quellen. Voller Energie und Vitalität sprüht das Bild vor Lebendigkeit und Lebensfreude, fast tänzerisch in wechselnden Farben. Einige der Staubbahnen nehmen eine gold-gelbe Nuance an. Andere Bahnen neigen dazu, bläulich distanziert zu schimmern und wieder andere erscheinen in neutralen Weiß oder Grau. All dies geschieht vor einem tiefschwarzen Hintergrund. Dieses Feuerwerk und Wechselspiel der Farben lässt mich jedoch melancholisch werden und an die verschiedensten Stationen und Beziehungen meines Lebens denken. Die Brüche und Haken, die man geschlagen hat oder noch schlägt. Die Unschuld der Anfänge! Die Trauer der Verluste. Die Hoffnung in eine tiefere Verbundenheit in unserer Existenz und unseres Endes. Ich mag an dieser abstrakten Arbeit #037 von Andreas Gefeller, dass sie wie ein Spiegelbild auf mich wirkt. Eine Art Dosenöffner zu meinen Emotionen. Die Dualität von Lebensfreude und Melancholie verschmelzen hier zu einem zeitlosen Kunstwerk, welches mir die Freiheit lässt und mich nicht in ein vorgegebenes „zu sehen haben“ zwängt. Ein erfrischender Gegensatz zu der täglichen Bombardierung und Bebilderung von immer neuen menschengemachten Katastrophen. Monate später, Hochsommer, bei offenen Fenstern schallt Kinderlachen an den Küchentisch. Die düsteren Prognosen haben sich nicht bewahrheitet und der Sonnenschein brennt mir die Lebensfreude unter die Haut. Dabei fällt mir #037 wieder vors Auge. Abermals lasse ich mich darauf ein und es beginnt eine Reise in die Vielschichtigkeit meiner Emotionen. Nur diesmal dominiert das Spiel der Optimismus.

Foto: Tanya Habjouqa

Aus der Serie Occupied Pleasure – von Tanya Habjouqa. Ausgewählt von Sofie Puttfarken 

Tanya schafft mit ihrer leidenschaftlichen, feinfühligen und humorvollen Art Themen visuell einzufangen und zugänglich zu machen, die mich sehr beeindruckt. Nicht wegsehen. Menschen in ihrer Lebensrealität zeigen, statt Menschen und Themen im Opfernarrativ zu reproduzieren. Das Bild der drei Kinder im Planschbecken aus der Serie Occupied Pleasure fängt einen Moment der Leichtigkeit und Lebensfreude ein. Der Baum beugt sich schützend über sie, die Sonne steht tief und wirft lange Schatten, der Abend kommt bald. Friedlich wirkt es doch etwas scheint „slightly off”, eine Spannung, ein Schatten, der bedrohlich wirkt – oder ist es nur unsere Konnotation zu dem Thema? Heute haben wir zu Palästina Bilder von Zerstörung und Leid im Kopf. Umso stärker rührt mich das Bild vom Davor. Kleine Menschen, die auf diese Welt kommen, ohne darum gebeten zu haben, schuld- und schutzlos. Sie alle haben ein sorgenfreies Leben verdient – egal wo auf dieser Welt. 

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