Nahaufnahme: Marina Woodtli

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder oder Fotoserien, die ihnen besonders am Herzen liegen. Liane Geßner aus der Bildredaktionsklasse 2021/22 sprach mit der Fotografin und OKS-Studentin Marina Woodtli zu einem Bild aus ihrer Serie „vier“ und gibt uns einen Einblick in die Entstehung ihrer Fotoserie:

„Drinnen im Sein, im Sein des Drinnen, empfängt und umfängt eine Wärme das menschliche Wesen.“*

Das Dreieck. Eine Grundform. Seit Menschgedenken Form des Schutzes, der Behausung. Eine Form der Sicherheit. In vielen Kindheiten ist das Dreieck tief verwurzelt als Behausung innerhalb der eigenen Behausung. Die Höhlen und Zelte, die Unterschlüpfe und Verstecke der Kindheit, sie sind ein Spiel, das hauptsächlich mit Bettdecken und dem eigenen Körper ausgetragen wird. Wer drunter ist, ist sicher. Wer noch nicht drunter ist, sollte sich schleunigst beeilen, schließlich warten da Monster.

Das Familienporträt von Marina Woodtli zeigt ein Zu Dritt in ihrem Wintergarten in Basel in der Schweiz. Ihr dreijähriger Sohn Ari liebt, genau wie viele andere Kinder, das familiäre Spiel mit der Bettdecke und ruft zur Aufnahme in den Unterschlupf und auf Film auf. Es wird sich versteckt, es wird gekämpft und es wird vor allem gekuschelt.

Das Besondere an diesem Familienporträt ist, dass es das letzte Bild der Familie zu dritt ist. Es entstand kurz vor der Ankunft des neuen Familienmitglieds und ist Teil der Serie vier. Diese Serie zeigt die Facetten des Familienlebens und wie es ist, wenn ein neues Lebewesen in eine Familie hinzukommt. Es entsteht eine Serie, die den Alltag Woodtlis Familie, ihre Schwangerschaft und die Geburt ihres zweiten Sohnes fotografisch begleitet.

Kreis, Dreieck, Quadrat. Diese Grundformen der Natur bestimmen Woodtlis Arbeit. Formen des Selbst, Formen des Unbewussten, Formen der Beziehung zueinander und in Beziehung zur Natur.  Manchmal einfach und klar. Kreis als Ich. Dreieck als Haus. Quadrat der Jahreszeiten. Oft aber auch herausfordernd, als Mischformen der Gemengelage. Vier wird spätestens hier komplizierter, denn Woodtli setzt sich und ihre Familie in Beziehung zur Natur. Ihre Identität wird Stein und Gebirge, dann wieder Erde und Pflanze und verweist auf die unermessliche Diskrepanz zwischen Mensch und Welt. Wir nähern uns dem Sublimen in diesen Bildern. Hier beginnt ein Rhythmus der Natur, des Wandels, des Wechsels und der Veränderung des eigenen Körpers, der eigenen Familie und dem großen Zyklus, der unsere Natur bestimmt. Unwesentliches wird dabei zum Wesentlichen. Es schließt sich ein Kreis. Es schützt ein Dreieck. Es lebt ein Quadrat.

Marina Woodtli, geb. 1987, ist Künstlerin und Fotografin. In ihrer künstlerischen Praxis arbeitet Woodtli mit Fotografie, Video, Skulptur, Audio, Multimedia Installation, Papier und Druckgrafik. Die Arbeiten von Woodtli spinnen Geschichten über Menschen, sie lassen vermuten, verwerfen, wundern, interessieren. Sie verorten sich zwischen Dokumentation und Fiktion. Woodtli lebt und arbeitet in Basel und Berlin. 

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*Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, München: Carl Hanser Verlag, 1960. S. 39.