Nahaufnahme

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen und Dozenten der Ostkreuzschule über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Im dritten Teil der Serie spricht Thomas Meyer über ein sehr persönliches Urlaubsbild, das zu einer Zeit des Umbruchs entstanden ist.

Nordseeinsel Spiekeroog#North Sea island Spiekeroog

„Das Bild von dem kleinen Mädchen auf einer Düne der Nordseeinsel Spiekeroog ist schon etwas älter. Genau genommen entstand es vor 11 Jahren und zeigt ein Mädchen, das abgewendet vom Betrachter über die Landschaft der Insel auf das Meer und das dahinter liegende Festland schaut. Eventuell befinden sich ein paar Tiere auf den tiefer gelegenen Wiesen. Die Sonne scheint, trotzdem ist das Licht durch einen gewissen Dunst relativ weich. Das Mädchen schaut ganz für sich alleine in die Weite, während der Wind ihr Kleid leicht anhebt und mit ein paar Haaren im Nacken spielt. Sie hält ein Tuch in den Händen und hat wohl etwas zu große Schuhe an. Der Draht des Zaunes schneidet ihr optisch durch den Hals. Die Schärfe liegt nur auf ihrer Ebene, alles weiter weg ist erkennbar, aber unscharf.

Das Mädchen ist meine älteste Tochter. Eigentlich zeige und benutze ich Bilder meiner Familie sehr ungern. Genauer gesagt: Es ist das einzige Bild eines meiner Kinder, welches in meinem Portfolio gelandet ist. Man kann sich nie sicher sein, inwieweit die emotionale Nähe die Urteilskraft über die Qualität eines Bildes zu stark beeinflusst. In diesem Fall hat die Bildwirkung aber nichts mit dem Gesicht zu tun – da nicht sichtbar – , sondern entfaltet ihr Potential durch die oben beschriebenen Aspekte und unsere Interpretationen. Ein kleiner Mensch guckt in die weite Welt und löst sofort Emotionen beim Betrachter aus.

Das Bild entstand im letzten gemeinsamen Urlaub mit der Mutter des Kindes. Wir waren schon so gut wie getrennt. 9/11 war einige Monate vorher geschehen und die Welt war im Umbruch, auch für das Kind und für die Eltern. Ich hatte mir vorgenommen, die Woche auf der Insel auch dazu zu nutzen, völlig frei zu fotografieren und mich nicht durch Konzepte oder formale Vorgaben einschränken zu lassen. Vor allem Landschaftsaufnahmen mit einer gewissen Melancholie und ein paar Details und Architekturen sind damals entstanden. Drei Jahre später bin ich noch mal alleine auf die Insel gefahren und habe die Serie für unsere OSTKREUZ-Ausstellung „Deutschlandbilder“ vervollständigt.

Normalerweise arbeite ich eher inszeniert und formal. Darüber kann man sich streiten, es gut oder nicht so gut finden. Das geht mir selber so. Dieses Bild steht einfach da und hat für mich eine existentielle Bedeutung. Wie gesagt, man kann sich nie sicher sein, inwieweit emotionale Nähe die Urteilskraft über die Qualität eines Bildes beeinflusst. Hier ist es mir egal.“

Thomas Meyer wurde 1967 in Delmenhorst geboren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für Künste in Bremen und war Mitbegründer der “Bremer Werkgruppe für Fotografie“.  Seit 2000 ist er Mitglied der Agentur Ostkreuz. Neben seiner Tätigkeit als freier Fotograf ist er seit 2008 auch Dozent an der Ostkreuzschule für Fotografie.

www.thomas-meyer.com