Ein schönes Bild – Teil 2

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jede*r der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das er*sie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihm*ihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“
Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Christopher Nunn

Aus dem Projekt Ukraine 2013- fotografiert von Christopher Nunn. Ausgewählt von Anastasia Hermann.

Auf der Suche nach den Wurzeln seiner Vorfahren in einem ihm fremden Land, ist Christopher Nunn 2013 in die Ukraine gereist und fand sich mitten in einem von Umbrüchen und Konflikten heimgesuchten Land wieder. Insbesondere die östliche Grenzregion, welche die abgebildete Fotografie zeigt, ist durch den Krim-Konflikt tief gespalten und erschüttert worden. Vor diesem Hintergrund entrückt die idyllische und innige Szenerie auf dem Foto der Gegenwart. Das Motiv scheint eher aus einer längst vergangenen Zeit ent- sprungen. Die nostalgische Stimmung wird durch das ältere Auto eines sowjetischen Fabrikats und den leicht entsättigten Farbtönen unterstrichen. Ein aus der Hosentasche ragendes Smartphone, das auf den ersten Blick auch als Walkman durchgehen könnte, bringt den Betrachter jedoch wieder in die Gegenwart zurück. Zärtlich umarmt, verweilen die zwei jungen Mädchen in ihrer Vertrautheit, halten einen Augenblick lang den gegenwärtigen Moment fest und scheinen zugleich in einer noch unbekannten und ungewissen Zukunft versunken. Einer Zukunft im Frieden oder im Krieg, einer Zukunft mit oder ohne die vertrauten Menschen an ihrer Seite, auf die bereits im Bild, nur noch durch die halb leeren Plastikbecher verwiesen wird. In der abendlichen Stimmung, mit ihren langen Schatten, blicken die zwei anonymen Protagonistinnen nach Westen, in Richtung der untergehenden Sonne, dem Westen vom den sie sich vielleicht ihre Zukunft versprechen.

Foto: Werner Amann

Aus dem Zyklus American, fotografiert von Werner Amann. Ausgewählt von Tobias Laukemper.

Eingezwängt in die linke obere Bildecke fristet der Schriftzug „HOLLYWOOD“, die 15m hohe skulpturale Ikone der schillernden Traumfabrik in den Hollywood Hills, ein ungewohnt dezentes Dasein. Die sinnbildliche Verortung der amerikanischen Idee vom großen Erfolg zeigt sich wie schon fast überwuchert von einer großen und bildgreifenden Störung. Eine unscharfe, sandfarbene Woge, deren Materialität und Volumen nicht auszumachen ist, droht alles unter sich zu begraben. Die Kraft des Bildes von Werner Amann entsteht für mich durch die Brechung der Narrationsmuster und Vorstellungen wie etwas zu fotografieren ist, was schon tausendfach bebildert wurde. Ist meine Wahrnehmung von einem Element, welches sich zwischen mich und das eigentlichen Motiv drängt irritiert-oder erschafft die geringe Tiefenschärfe, eine neue Perspektive auf eine altbekannte Situation? Das Bild führt die Mittel der klassischen Komposition ad absurdum. Es konfrontiert mich mit der Frage wie der Hunger nach Bildern Inhalt und Kontext der zeitgenössischen Bildproduktion verändert. Die Koordinaten meines Standortes zu bestimmen fällt mir schwer und erzeugt eine visuelle Bodenlosigkeit. Es entsteht das Gefühl in mir, Teil der nach Bildraum gierenden karamellfarbenen Masse zu sein, und gleichzeitig von ihr verschluckt zu werden.

Foto: Dominika Gesicka

Aus der Serie This not real life von Dominika Gesicka. Ausgewählt von Annika Börm.

Für Ihre Serie This is not real life begibt sich Dominika Gesicka in die nördlichste Stadt der Welt , wo das Tageslicht für Monate von der Dunkelheit des nördlichen Polarkreises verdrängt wird. In Ihren Fotos verwandelt sie diesen Ort in eine Art Zwischenwelt, in der nichts bleibt und niemand bleiben will, in der „niemand geboren wird und niemand stirbt“. Der Betrachter betritt einen Ort zwischen Traum und Wirklichkeit, Dunkelheit und Licht, Nähe und Distanz. Das Foto des verrosteten Autos auf dem leeren Parkplatz im Nebel symbolisiert für mich diese Gegensätze. Es strahlt auf den ersten Blick in monochromen Farbtönen Stille und Frieden aus. Doch bei längerem Betrachten bekommt das Bild etwas Irritierendes: Das alte kaputte Auto wirkt auf einmal fast menschlich, allein und deplatziert. Irgendwer scheint es einfach dort stehen gelassen und vergessen zu haben. Bilder und Fragen schleichen sich ins Bewusstsein und irgendwie wird dieses Auto auf einmal zum Symbol für den Tod in Spitzbergen. Denn, so schreibt die Fotografin im Begleittext zu Ihrer Arbeit, „Man kann an diesem Ort zwar sterben, aber nicht begraben werden, weil der Körper sich im Permafrostboden nicht zersetzen kann.“

Foto: Ina Schönenburg

Ina Schoenenburg mit einem Bild aus der Arbeit DU. Ausgewählt von Bernd Diekjobst.

In großen, leerstehenden Gebäuden wird das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen. Wut, Angst, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Zerrissenheit sind überwältigend. Dunkelheit und Kälte verstärken diesen Effekt. Langsam macht die Protagonistin sich den Ort zu Eigen. Sie kontrolliert ihre Emotionen, lässt sie zu. Die Kontraste zwischen Helligkeit, Dunkelheit, dem im weichen Licht inszenierten Körper, kaltem Beton, Statik und Bewegung visualisieren die Dramatik dieses Spannungsfeldes. Das Gebäude fungiert dabei als Bühne. Ina Schoenenburg nahm ihr Selbstportrait im Januar 2012 in den alten Gemäuern der ehemaligen Brauerei Bötzow auf. Die Aufnahme entstand im Rahmen des Fotografiewettbewerbes „Auf Bötzow“, der von den neuen Eigentümern der Brauerei ausgerufen wurde. Ina Schoenenburg fotografierte mit einer analogen Mittelformatkamera. Den Selbstauslöser versteckte sie dabei in der linken Hand und produzierte die Unschärfe durch eine lange Belichtungszeit und Bewegungen. Sie hatte keine Assistenz.

Foto: Torsten Schumann

Aus dem Buch More Cars,Clothes and Cabbages fotografiert von Torsten
Schumann ausgewählt von Anje Kirsch.

Ton tun ist der Titel dieses Fotos von Torsten Schumann, das in dem Buch More Cars, Clothes and Cabbages veröffentlicht ist. Ein Titel so unspektakulär und eigensinnig wie das Bild. Wie kurios ist es, dass die Umgebung und die Frau den gleichen Farbton haben. Das Foto wirkt auf den ersten Blick so farblos, als hätte es auch schwarz/weiß sein können. Doch dass der Rock der Frau den gleichen Farbton wie der Sockel des Hauses hat und ihre Jacke den der Fassade und Garage, macht das Foto, so banal es ist, zu etwas Besonderem. Was macht die Frau gerade? Ist ihr Leben so farblos, wie ihre Umgebung ? Die Situation hat etwas Komisches, die der Gegenstand des Bildes gar nicht hergeben würde, wenn nicht Torsten Schumann mit seiner Kamera vorbeikäme. Dem Fotografen fallen die kleinen Merkwürdigkeiten im Alltag auf. Er nutzt den Moment der Absurdität des Gewöhnlichen: genauso ereignislos, wie vergnüglich. Gerade das ist es, was den Betrachter ein zweites Mal hingucken und in einem augenscheinlich bedeutungslosem Bild nach Bedeutung suchen lässt.

Foto: Anne Schwalbe

Nochmal Regen aus Blindschleiche und Riesenblatt, fotografiert von Anne Schwalbe. Ausgewählt von Uta Oettel.

„Nochmal Regen“ stammt aus Anne Schwalbes Arbeit „Blindschleiche und Riesenblatt“. Es zeigt den Ausschnitt einer Wasseroberfläche. Das Meer, ein See, ein Fluß: ich weiß es nicht. Es gibt keinerlei Hinweis auf den Ort. Es kann überall sein. Quadratisch ist das Format, ruhig und ausgeglichen rahmt es das Motiv. Blau in unterschiedlichsten Schattierungen von dunkel bis hell. Die Wasseroberfläche, im Vordergrund bewegt und fokussiert, verschwimmt im Hintergrund zu einer nebelartigen Fläche, die dem Bild etwas Unendliches verleiht. Durch die Luft fliegen „weiße Funken“: Was auch immer da auf die Oberfläche trifft, lässt Ringe entstehen. So tief, dass sie an ihren Rändern Zacken bilden — kleine Kronen, die sich kurz zeigen, dann flacher werden, wieder verschwinden und mit der Wasseroberfläche Eins werden. Ich mag dieses Bild. Ich schaue aufs Wasser. Und dabei entsteht ein Raum von Stille und Platz für meine Gedanken. Das ist, was Natur kann. Und das bildet Anne Schwalbe ganz präzise ab. Fast stehe ich da, wo sie gestanden hat. Auf einem Steg, am Ufer, auf einem Boot, vielleicht auch im Wasser. Für einen Moment bin ich da. Und höre das Klicken der Yashica.