Nahaufnahme

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen und Dozenten der Ostkreuzschule über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Im zweiten Teil der Serie erzählt Baris Guerkan von „Thomas“ und der Entstehung seiner bemerkenswerten Abschlussarbeit „Kreis“ von 2012.

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„Als wir Anfang 2011 in der Orientierungsklasse total orientierungslos nach Themen für unsere Abschlussarbeiten gesucht haben, hatte ich noch nicht die geringste Idee, wie intensiv und anstrengend dieses kommende Jahr für mich werden würde. Die „Wer suchet, der findet“-Regel gilt am meisten in diesen Fällen. So habe ich mein Thema gefunden; so wurde mein Thema auch meine eigene Realität. Willkommen in der Krise.

Von meinem zukünftigen Thema habe ich zum ersten Mal in der U-7 (Richtung Spandau) erfahren: zwei Mitte 40-Jährige Hippies saßen gegenüber und redeten relativ laut über ihr Tantra-Workshop am Wochenende. Von Tantra hatte ich schon mal gehört. Alte Hippies hatte ich auch hin und wieder kennengelernt. Aber Spiritualität bzw. Esoterik war in meinem Freundeskreis und meiner Familie ein total verpöntes Thema. Ich konnte mit niemandem ernsthaft darüber reden. Wer waren denn diese Leute? Wie ticken die wirklich? Ich kannte die Religionen und religiöse Menschen, aber die Spirituellen waren mir total fremd. Wer sind diese Menschen, die die Spiritualität und dadurch ihren Körper und ihre Seele als eine Wirklichkeit erleben? Ist das eine Ersatzreligion für moderne Stadtmenschen? Sind diese Menschen wirklich viel offener oder freier als die nichtspirituellen? Ist dieses merkwürdige Lächeln echt?

Viele Fragen tauchten für mich auf. Ich sollte eigentlich ein persönliches Thema als Abschlussarbeit verwirklichen; ich hatte aber nichts mit dieser Parallelwelt zu tun. Ich war immer noch orientierungslos, aber die Orientierungsklasse war schon vorbei. Wir waren in der Abschlussklasse und die Zeit wurde immer knapper.

Spiritualität wurde trotzdem mein Thema – für genau ein ganz ganzes Jahr. Ich wusste nicht wohin damit, aber es machte mich süchtig, diese Workshops, Seminare und Festivals zu besuchen und wie ein Alien die Menschen zu porträtieren und die Orte zu dokumentieren. Bis ich immer öfter auf die Männer bei spirituellen Workshops gestoßen bin, die mich mit ihrer persönlichen und oft sehr konfliktvollen bzw. krisenhaften Geschichten berührt haben. Fotografie war dann oft nur eine Nebensache.

Ich habe ca. 5 Monate Zeit gehabt, mich mit dem Thema „Männer“ und „Krise“ zu beschäftigen. Dieses Foto ist von meinem ersten Männer-Workshop; genauer gesagt, vom spirituellen „Nordmännertreffen“. Ich kam an dem Tag 15 Minuten zu spät und die Männer hatten schon mit den Körperübungen angefangen. Thomas war mein Partner. Ungefähr nach einer halben Stunde war er in diesem Männerkreis als erster dran, um seine Befindlichkeiten zu äußern. Folgende Geschichte hatte er uns erzählt, die das Thema bzw. das Ergebnis meiner Abschlussarbeit meiner Meinung nach sehr schön zusammenfasst:

„Das war die Geschichte von dem Mann, der sein ganzes Leben auf der Suche nach dem Sinn des Lebens war, tausende Bücher darüber las, viele Reisen unternahm und dann von dem „großen Weisen“ erfuhr, der das „große Wissen habe“. Er begab sich auf eine lange, gefährliche und strapaziöse Reise. Er traf auf einen alten Mann und fragte ihn: „worin besteht der Sinn des Lebens?“ und der alte Mann erwiderte „in einer Schale Kirschen.“ Erst war der Reisende verwirrt, wurde dann aber wütend und sagte, „ich habe diese lange Reise unternommen, um dann von dir zu hören, der Sinn des Lebens bestünde in einer Schale Kirschen?“

Daraufhin lächelte der alte Mann und sagte: „Dann besteht der Sinn des Lebens eben nicht in einer Schale Kirschen!“ „

Baris Guerkan wurde 1978 in Istanbul geboren. Nach dem Studium der Philosophie und Filmwissenschaft studierte er bis 2012 in der Klasse von Prof. Ute Mahler an der Ostkreuzschule für Fotografie. Baris lebt in Berlin und arbeit als freier Fotograf.
www.barisguerkan.com