Entfremdung? Selbsterforschung? Bitte von beidem etwas!

Die Fotografen Louisa Bäcker und Tassilo Rüster in der Gemeinschaftsausstellung Roots/Leaves – Ein (Erfahrungs-)Bericht

Am 24. Mai eröffnete die Galerie im Erd und Feuer die Ausstellung Roots/Leaves in Berlin-Kreuzberg. Ich wollte mir die dort ausgestellten Fotografien von Louisa Bäcker und Tassilo Rüster ansehen und herausfinden, welcher Bezug sich dabei für mich zu den Begriffen „Entfremdung“ und „Selbsterforschung“ herstellen lässt. Von diesen beiden Begriffen ist nämlich im Begleittext zur Ausstellung die Rede. Sie bilden quasi den gedanklichen Rahmen oder auch die thematischen Pole, zwischen denen sich die hier gezeigten Arbeiten in aller Freiheit bewegen. Allerdings wollte ich nun auch nicht zu verkopft starten, zumal in diesem Kontext auch von „Humor“ und „Ironie“ die Rede war. Das hatte mich neugierig gemacht. Also ging es ganz unbeschwert einfach erst mal los:

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Eröffnung der Ausstellung Roots/Leaves. Foto: Bernhard Tietz

Roots/Leaves_Vernissage_Bild 2

Eröffnung der Ausstellung Roots/Leaves. Foto: Bernhard Tietz

Roots/Leaves_Vernissage_Bild 3

Eröffnung der Ausstellung Roots/Leaves. Foto: Bernhard Tietz

Die jeweils sechs- beziehungsweise fünfteiligen Bilderserien der beiden Fotografen sind auf eher kleinformatigen Abzügen zu sehen – ein Umstand, welcher der gerade bei einer Gruppenausstellung nun einmal begrenzten Präsentationsfläche geschuldet ist. Etwas erstaunlich erweist sich dies jedoch keineswegs als Manko. Im Gegenteil: Man muss nähertreten, und die so hergestellte Intimität zu den Bildern verhindert ein allzu flottes „Dranvorbeischweifen“ des Besucherauges. Sie führt vielmehr zu erhöhter Aufmerksamkeit und Konzentration. Zu Ausstellungstugenden also, die sonst von manchem Betrachter gar nicht erst mobilisiert werden. Diese Aufmerksamkeit ist aber auch notwendig, denn es handelt sich bei beiden Serien nicht um marktschreierische Arbeiten, die dem Betrachter ein „Sieh-mich-an!“ entgegenschleudern. Diese Arbeiten wollen nichts erzwingen, sondern ihre erste Botschaft lautet eher: „Hey, ich lade dich ein zu verweilen. Und wenn du es willst, dann erzähle ich dir auch etwas.“

Doch wie war das noch gleich mit der Frage nach einem Anknüpfungspunkt für die beiden Grundthemen der Ausstellung? Den muss man in den Arbeiten von Louisa Bäcker und Tassilo Rüster nicht allzu lange suchen – wenn auch auf jeweils ganz eigene Art und Weise:

Louisa Bäcker

Timmi, aus der Serie "McPomm". Fotografin: Louisa Bäcker

„Timmi“ aus der Serie McPomm, Foto: Louisa Bäcker

Lotti, aus der Serie "McPomm". Fotografin: Louisa Bäcker

„Lotti“, aus der Serie McPomm, Foto: Louisa Bäcker

Immanuel, aus der Serie "McPomm". Fotografin: Louisa Bäcker

„Immanuel“, aus der Serie McPomm, Foto: Louisa Bäcker

Magarete, aus der Serie "McPomm". Fotografin: Louisa Bäcker

„Magarete“ aus der Serie McPomm, Foto: Louisa Bäcker

In ihrer Porträtserie McPomm, die 2012 entstanden ist, stehen junge Menschen im Mittelpunkt des Geschehens. Louisa Bäcker zeigt im Zentrum ihrer Bilder jeweils einzelne Jugendliche unterschiedlichen Alters, die sich, immer sitzend, vor einer ländlichen Szenerie (in der Nähe des Kummerower Sees in Mecklenburg-Vorpommern) an Orten darstellen, die ihnen vertraut und wichtig sind. Der landwirtschaftlich geprägte Hintergrund (Felder, Weiden, Heuballen) ist dabei nicht gänzlich scharf durchgezeichnet. So bleibt er zwar immer noch gut erkennbar, drängt sich jedoch nicht auf. Dies dient wohl der Intention, zwar über das direkte Lebensumfeld der Heranwachsenden zu informieren sowie die dem ländlichen Raum eigene Symbolkraft mit einfließen zu lassen, die Orte aber gleichzeitig auch als eine Bühne für die sehr betont im Vordergrund des Bildraumes Porträtierten zu nutzen. Welches Stück führen diese Jugendlichen denn nun auf? Es ist das immer faszinierende Drama des Erwachsenwerdens!

Dass der Prozess des Heranwachsens etwas mit Selbstfindung zu tun hat, ist klar. Insofern lässt sich ein erster Bezug zum Ausstellungsthema „Selbsterforschung“ recht schnell herstellen. Da dieser Prozess in Schüben und teilweise auch sehr flott vonstattengeht, sind in dieser Lebensphase aber auch Gefühle der Selbstentfremdung und Zerrissenheit keine Seltenheit. Es geht dabei nicht nur um die körperlichen Veränderungen und ihre Folgen, sondern auch um die geistige Entwicklung und eine damit einhergehende gesellschaftliche Neu- oder Umorientierung der Jugendlichen. Und da wird es interessant. Denn genau in der Frage, ob und wie sich ein solcher Entwicklungsprozess bei den Jugendlichen abzeichnet und in Bildern einfangen lässt, liegt ein in meinen Augen wichtiges Anliegen dieser Arbeit. „Sind diese Jugendlichen noch in ihrer Heimat zu Hause?“, so frage ich mich angesichts dieser Bilder.

Wie sich die Jugendlichen fühlen, sich selbst sehen und in Bezug zu ihrem Umfeld entwickeln, das ist die eine Seite der Medaille. Und was widerfährt dem Betrachter der Bilder? Jeder erwachsene Besucher wird durch die Konfrontation mit dem Thema „Jugend“ auf den ausgestellten Bildern in der Regel auch einen Vergleich zu der eigenen Jugendzeit ziehen. Manch einem wird bewusst werden, wie lange diese Zeit eigentlich schon zurückliegt, wie weit er sich seitdem von jener heftigen Entwicklungsphase entfernt hat, so dass Sie ihm heute fast schon fremd erscheint. Voilà! Hier haben wir eine weitere Form von Entfremdung, die uns diese Fotografien aufzeigen können.

Zudem haben die Arbeiten auch einen engen biografischen Bezug zur Fotografin selbst. Louisa Bäcker kennt die Protagonisten auf ihren Bildern persönlich. Sie verbrachte in ihrer Jugend viel Zeit am Schauplatz von McPomm, denn ihre Eltern hatten ein Ferienhaus vor Ort. Für sie kann der Blick zurück daher erst recht die Sicht auf die eigene Entwicklung und möglicherweise auf eine damit einhergegangene Entfremdung freigeben. Aber auch den abgebildeten Jugendlichen sieht man an, dass sie sich bereits auf diesen Weg der Selbsterforschung gemacht haben. Die spannende Frage bleibt dann nur, wie weit jede/r diesen Weg letztlich zu gehen bereit ist, und welche Chancen und Möglichkeiten Timmi, Lotti, Immanuel und Magarete dabei schließlich ergreifen.

Tassilo Rüster

fisch. Fotograf: Tassilo Rüster

Ohne Titel, Foto: Tassilo Rüster

granat. Fotograf: Tassilo Rüster

Ohne Titel, Foto: Tassilo Rüster

schocke. Fotograf: Tassilo Rüster

Ohne Titel, Foto: Tassilo Rüster

kastanie. Fotograf: Tassilo Rüster

Ohne Titel, Foto: Tassilo Rüster

Die Arbeiten von Tassilo Rüster, sie sind nicht düster. Die Stillleben sind zwar dunkel gehalten, wirken dadurch jedoch eher geheimnisvoll und rätselhaft. Das liegt natürlich auch an den abgebildeten Objekten selbst. Was ist das da eigentlich? …nach und nach kleine Erkenntnisbrocken: Okay, ein Fisch! Aber anders, als man ihn sonst kennt. Eingewickelt, bekleidet? Im Tiefschlaf vielleicht? Aber in der Senkrechten stehend mit einer ambossartigen Metallfuß-Flosse? Ehe man sich versieht, wird man auch schon in ein lustiges Verwirrspiel hineingezogen. Wie nicht ganz von dieser Welt erscheinen diese der Wirklichkeit entrückten Dinge, Pflanzen, Tiere, die uns, wie Exponate präsentiert, plötzlich merkwürdig, besonders und wertvoll erscheinen. Herbeigeführt wird diese Wirkung auch durch einen geschickten Lichteinsatz, welcher mich bei meiner Suche nach Einordnung an den Begriff „Nachtschattengewächse“ denken lässt.

Wir haben es hier also mit unserem Erfahrungsschatz nach eigentlich hinlänglich bekannten Dingen zu tun, die sich durch eine rätselhafte Metamorphose unserer sofortigen Kategorisierung entziehen. Ihre Verfremdung entfremdet sie uns. Um weitere Klarheit zu erlangen, wandert mein Blick wiederum von Bild zu Bild und wieder zurück. Plötzlich glaube ich, noch etwas erkannt zu haben. Klar, wenn das eben ein Fisch war, muss das auf dem anderen Bild doch Fischrogen sein. Nein, ganz falsch! Wie ich hinterher erfahre, handelt es sich um die Innereien eines Granatapfels, die dort auf einem Holzblock nicht liegen, sondern eher wie ein lebendiger Organismus stehen und mich von dort so wundersam anschimmern. Mir wird langsam klar: Man kann mit den Begriffen „Verfremdung/Entfremdung“ durchaus auch spielen. Experimentierfreude ist sicherlich ein Merkmal, das diese Arbeiten im Besonderen kennzeichnet. Vielleicht war es somit ganz einfach die „Freude am Seltsamwerden der Umwelt“ (Franz Roh), die den Fotografen zu seiner Arbeitsweise führte.
Ähnlich wie schon bei der Betrachtung der Stillleben, so waren auch bei deren Entstehungsweise jedenfalls Geduld und Neugier als wichtige Grundzutaten erforderlich. Nach Informationen von Tassilo Rüster sind die Bilder zu dieser Serie zudem in einem recht offenen Prozess entstanden, den sowohl Kontrolle als auch Zufall prägten. Denn fotografiert wurde im Studio, um einerseits Konzentration zu gewährleisten und um das Licht gezielter setzen zu können. Zum anderen wartete der Fotograf häufig einfach ab, bis sich auch durch den Faktor Zeit seine organischen Objekte durch Verfallen, Verwelken oder kleine tierische Besucher von ihrer idealen Seite zeigten.

Bei aller noch bevorstehenden Selbsterforschung steht an diesem Samstagnachmittag jedenfalls eines fest: Wer sich auf den Weg in die Galerie im Erd und Feuer macht, der wird gleich mehrfach belohnt. Er kann dort neben den fotografischen Arbeiten, über die hier erzählt und fantasiert wurde, auch sehen, wie sich die anderen Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Herkunft und Kultur mit den Mitteln der Fotografie, Malerei, Skulptur sowie einem Videoprojekt ihren Erfahrungen von Ausgrenzung und Entfremdung gestellt haben, um schließlich die Fruchtbarkeit dieser Erlebnisse hier in Berlin mit uns zu „zelebrieren“, wie es so schön im Begleittext zur Ausstellung heißt.

Die Gemeinschaftsausstellung ist noch bis zum 21. Juni 2014 in der Galerie im Erd und Feuer in der Graefestraße 90 (Berlin-Kreuzberg) zu sehen.

Louisa Bäcker, geboren 1990 in Berlin, studiert derzeit in ihrem Abschlussjahr an der Ostkreuzschule für Fotografie“ in der Klasse von Prof. Ute Mahler. Im letzten Jahr wurde ein Teil ihrer Arbeiten im Kunstmuseum Dieselkraftwerk“ in Cottbus ausgestellt sowie 2012 im Centre d`Art Passarelle“ in Brest (Frankreich) im Rahmen der Gruppenausstellung „Ihr könnt Euch niemals sicher sein“ zusammen mit anderen Arbeiten von Ostkreuz-Studierenden, die ebenfalls das Thema „Jugend“ thematisierten. In ihrer Abschlussarbeit widmet sie sich in Form einer Analyse und Bestandsaufnahme Aspekten der Uniformierung des Menschen durch Kleidung, die im Herbst diesen Jahres auf der Abschlussausstellung der Ostkreuzschule zu sehen sein wird.

Tassilo Rüster, geboren 1988 in Berlin, hat im vorigen Jahr seine Ausbildung an der „Ostkreuzschule für Fotografie“ abgeschlossen. Er entschied sich während seiner Studienzeit ebenfalls für die Klasse von Prof. Ute Mahler. Das Thema seiner Abschlussarbeit war eine Baumstudie. Im Rahmen seiner künstlerischen Arbeit widmet er sich zunehmend auch der Bildhauerei, wobei er der Frage nachgeht, wie sich Skulptur und Bild gegenseitig bedingen.

Die beiden Fotografen hatten bereits 2013 in einem Modeworkshop der Ostkreuzschule“ erste gemeinsame Arbeitserfahrungen sammeln können und setzen ihre Kooperation nun mit der Teilnahme an der Gemeinschaftsausstellung Roots/Leaves“ weiter fort. Sie leben und arbeiten zur Zeit in Berlin.