Ein schönes Bild – Teil 2

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jede*r der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das er*sie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihm*ihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Aus der Serie Listen von Newsha Tavakolian. Ausgewählt von Helena Melikov.

Gebannt blickt die Welt derzeit auf die Proteste der iranischen Frauen, die sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch das islamistische Regime gegen die Einschränkungen ihrer Frei­heiten zur Wehr setzen. Schon 2011 hat die iranische Fotografin Newsha Tavakolian dieses Problem der Unterdrückung in ihrer Serie Listen thematisiert. Diese Fotoserie widmet sie Sänger*innen, denen nach iranischer Gesetzgebung nicht erlaubt ist, ohne Aufsicht aufzutreten oder gar eine eigene CD aufzunehmen. Unter ande­rem entstand dieses Motiv – eine Art „imaginäres CD­-Cover“ für die Porträtierten. „Es ist ein Echo der Stimmen dieser zum Schweigen gebrachten Frauen“, sagt Newsha Tavakolian. Schweigen. Das Bild schweigt, die Frau auch. Als hätte man die Szene auf stumm geschaltet. Alles um sie herum ist still, die Straßen wie leergefegt. Die knallroten Boxhandschuhe hängen schwer an ihrem Körper herunter. Wie eine Last – ein ewiger Kampf, gehört zu werden. Die Frau, es ist Newsha selbst, steht selbstbewusst da, mitten auf der Straße. Ohne Angriff oder Verteidigung und doch so, als könnte sie es mit der ganzen Welt aufnehmen. Sie tut es auch, nur leise. Ihr Gesicht wirkt melan­cholisch und stark zugleich. Ich frage mich, was sie denkt, was sie fühlt, und wie viel Kraft hat sie noch? Je länger ich sie be­trachte, umso lauter wird ihre Stimme in meinem Kopf.

Aus der Serie Serie A Wet Grave, A Stepping Stone von Roman Kutzowitz. Ausgewählt von Lennart Hölscher.

Der Fotograf Roman Kutzowitz hat 2017 unterschiedliche NGOs bei ihrem Engagementan den EU-Außengrenzen begleitet. Die Serie A Wet Grave, A Stepping Stone ist in dieser Zeit entstanden und dokumentiert Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer und Geflüchtete bei der Ankunft in Südeuropa. Das ausgewählte Foto ist Teil dieser Serie und wurde an Bord der Sea-Watch 3 bei einem Einsatz zur Seenotrettung aufgenommen. Im Vordergrund sitzt Ahmadhou aus Nigeria. In eine Filzdecke gehüllt, kurz vor dem Erreichen der italienischen Küste. Er ist umgeben von weiteren Personen, die sich mit ihm aus Libyen auf den Weg über das Mittelmeer gemacht haben. Flucht wird nach wie vor kriminalisiert. Die Europäische Union schottet sich ab, mit dem Ziel, Menschen ihre Hoffnung auf ein würdiges Leben in Europa schon an den Außengrenzen zu nehmen. Doch weiterhin verlassen viele ihre Herkunftsländer und machen sich auf eine ungewisse Reise. Sie wollen ankommen in einer besseren Zukunft. Zivile Hilfsorganisationen sind permanent im Einsatz, um das Leben dieser Menschen zu retten und sichere Fluchtwege zu ermöglichen. Während das Thema größtenteils aus den Schlagzeilen der Medien verschwunden ist, hat es nicht an Gegenwärtigkeit und Relevanz eingebüßt. Trotz der Schwere und Brisanz des Kontextes schreit das Bild nicht. Es ist leise und einfühlsam, dem Menschen zugewandt. Fotografiert wurde auf Augenhöhe. Die Farben der Textur aus Wolldecken und Plastikplanen schaffen eine Wärme. Die zugewandten Gesichter der abgebildeten Menschen erzeugen eine Nähe. Das Bild wirkt zeitlos, es könnte auch vor wenigen Tagen aufgenommen worden sein. Aus den unzähligen Fotos zur Flucht über das Mittelmeer tritt es dennoch hervor. Es ist die Aura, die das einfallende Sonnenlicht insbesondere Ahmadhou verleiht, mitten im Zentrum des Bildes. Es ist sein direkter Blick, der tief bewegt: selbstbewusst und voll Zuversicht, ruhig und warm. Voller Andeutung, fesselnd und bannend steht dieser Blick symbolisch für die individuelle Biografie jedes einzelnen Menschen auf der Flucht. Der Blick mahnt und stellt gleichzeitig eine Nähe her. Mit ihm bleibt auch das Bild, das ihn festhält, im Gedächtnis.

Foto: Todd Hido

Ein Bild von Todd Hido. Ausgewählt von Víctor Fernández Hernández.

Die Portraits von Todd Hido folgen einer bekannten Ikonographie: halb nackte weibliche Models in geheimnisvollen Interieurs, die wie Zimmer in verfallenen Motels aus den 50ern aussehen. Nichts besonders Neues. Die Frage ist, wie man aus dieser Ästhetik weiter kommen kann und schafft, die Neugier des Betrachters zu wecken. Die Atmosphäre ist alles in Hidos Werk: ein Rätsel. Dieses Bild bedeutet aber eine Ausnahme in seiner Portrait-Reihe: im Gegensatz zu den meisten anderen Bildern steht hier die Buchstäblichkeit der Geste im Vordergrund. Auf den ersten Blick bin ich von den technischen Aspekten des Bildes etwas verwirrt. Die Hände und Arme sind überbelichtet, der Kontrast zwischen Licht und Schatten ist viel zu hoch, hinten an der Wand ein Streifen Tageslicht, der nicht in die Komposition passt. Das Einzige, was eindeutig scharf ist, sind einzelne Haare, die den Blick stören. Aber man bleibt an der Porträtierten hängen. Die Kurve der Haare vor ihren Händen. Die Lücke in der Frisur, wodurch man ihre Haut wiedererkennt. Ihre überbelichteten Arme fressen unseren Blick auf. Aber vor allem tut mir ihre Betrübnis weh. Die Bedeutung geht über das Motiv, über die Inszenierung und über die Details hinaus. Das Bild hat seine Wahrheit gefunden. Ein universeller Ausdruck des Leidens.

Aus der Serie Final days of Georgian Nomads von Natela Grigalashviliaus. Ausgewählt von Sandra Buschow.

Das Bild berührt, bewegt mich. Ich sehe zuallererst den Jungen, zentral im Bild, sein eingehender, fragender Blick. Dann das Mädchen links von ihm. Ich nehme den Raum mit tiefer Decke wahr. Ein Bett, ein Sofa im Hintergrund, Deckchen, ein Kinderrucksack, eine Umzugskiste so halb unter und vor dem Bett. Ein karger, schlichter Ort, warm und liebevoll. Erst später nehme ich die Frau, die dem Mädchen die Haare bindet, wahr. Worauf bereiten sich die drei vor? Ein Fest, ein besonderer Tag? Wo wollen, gehen sie hin? Ich möchte den Jungen fragen. Den Jungen in dem schicken Anzug, der ihn größer macht, als er ist. Das Mädchen mit dem tiefen, fragenden Blick. Ich spüre die Unsicherheit, Aufregung, Sorge, Furcht. Ist es der erste Schultag? Wovor hat er, hat das Mädchen Sorge oder Angst? Grigalashvili nimmt uns mit diesem Bild aus ihrer fortlaufenden Serie Final days of Georgian Nomads, auf eine ihrer Reisen in die autonome Republik Adscharien/Adjara Georgiens mit. Seit sehr vielen Jahren reist die Fotografin zu den letzten Nomaden Georgiens und dokumentiert, portraitiert die Menschen und deren Leben. Sie bleibt über Wochen, Monate und ist Teil der dort wenigen verbliebenen Familien geworden. Die Intimität, der nahe, persönliche Zugang macht die Serie, dieses Bild besonders. Das Bild, die Szene, die Protaginist*innen, die Fotografin geben uns einen Einblick in deren Leben. Ein zärtlicher Moment, eine Unsicherheit. Das Bild stellt mehr Fragen, als das es etwas behauptet. Das ist es, was mich anregt, was mich verweilen, immer wieder rückkehren läßt. War dieser Moment vor Jahren, vor Monaten, gestern? Wir können es kaum einordnen. Ein zeitloses Bild. Liebevoll, zugewandt, leise, fragend. Nah.

Ein Bild von Andreas Rost. Ausgewählt von Maike Graefe.

Das Foto zeigt eine Frau, die mit entschlossenem Blick ihren Pass verbrennt. Dieser zielgerichtete und zugleich traurige Blick ließ mich innehalten. Ein Blick, der Fragen aufwirft. Was ist das für ein Pass, den sie verbrennt? Um welche Nationalität handelt es sich? Wer ist Sie, musste Sie vielleicht aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen? Der Pass ist das Dokument, das sie mit der Nation verbindet, die einen Krieg entfacht und am 24. Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat. Russland. Die Verortung des Bildes, in den Kontext einer Demonstration, ist durch den Hintergrund eindeutig. Nicht nur das Motiv des Fotos, sondern auch die Einordnung in das Zeitgeschehen machen es zu einem unvergesslichen Bild, das die Wahrnehmung und politische Haltung vieler Russen*innen widerspiegelt. „Heute demonstrierten so viele Menschen vor der russischen Botschaft, dass ich kaum Platz fand zum Fotografieren. Eine Frau verbrannte ihren russischen Pass direkt vor ihrer Botschaft. Dazu spielt eine Blaskapelle bestehend aus alten, weißhaarigen Männern ‚Bella Ciao’ ”, schreibt Andreas Rost, zu seinem Foto auf Instagram. Dieses Foto hält Geschichte fest und zeigt argumentativ einen anderen, als von der russischen Regierung propagiert, und den Medien getragenen, Blickwinkel. Andreas Rost schafft durch seinen Blick auf das politische Geschehen einen Beweis dafür, welche Macht visuelle Medien haben und betont die gesellschaftliche Verantwortung, die mit der Wahl von Bildern einher geht. „Später spielen sie die ukrainische Nationalhymne — und alle Umstehenden die den Text kannten, sangen: ‚Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben‘ ”, Andreas Rost auf Instagram.

Aus der Serie Polar Night von Mark Mahaney. Ausgewählt von Sandra Köthemann.

Es ist eine Reise in die Dunkelheit, die Mark Mahaney für seine Bildserie „Polar Night“ unternahm, an den scheinbar einsamsten und stillsten Ort der Welt. Die Fotografie zeigt eine Umgebung, die gleichzeitig verwirrend, bedrückend, unwirklich und faszinierend wirkt. Die finstere Szenerie zeugt von den Strapazen des Lebens unter solchen meteorologischen Bedingungen. Das Wohngebiet wirkt fremd, abweisend und ist keine Einladung zum (Über-) Leben. Nicht nur die Farben, sondern auch die Wahrnehmung werden durch das Blitzlicht verzerrt und verstärken so den surrealen Charakter der örtlichen Situation. Die Farbgebung überhöht die physische Kälte und unterstreicht die emotionale Kühle. Die Distanziertheit, der Stillstand und die Härte dieser Landschaft stechen hervor und präsentieren sich lebensfeindlich. Der Landstrich heißt einen nicht willkommen. Schneebedeckte Stromleitungen durchkreuzen den Blick auf den Schauplatz. Die Sicht fällt auf glatte Schneeoberflächen ohne jegliche Spuren. Alles ist unter Schneemassen begraben und zum Schweigen verdammt. Verschneite herumstehende Alltagsgegenstände vor Häusern und Garagen deuten auf menschliches Leben hin. Es scheint hinter den schneebedeckten Fenstern und Türen verborgen zu sein und lässt nur erahnen, dass dahinter das Leben lodern könnte. Die Schneedecke versperrt die Sicht auf das Innere. Sie schottet die Außenwelt ab. Jede Bewegung, jeder Atemzug und jedes Geräusch werden verschluckt, sind gänzlich abwesend. Die zugeschneite Landschaft ist in Lautlosigkeit getaucht und zeigt eine eisblaue, erstarrte Fassade. Vielleicht ist die Hülle ein Schutz oder ein Versteck vor der Kälte, vor der Dunkelheit oder vor den Blicken. Betrachtende erfahren nichts und bleiben mit offenen Fragen zurück. Die Fotografie zeigt einen Ort von schreiender Stille, eingebettet in einer geheimnisvollen Helligkeit und dahinter das dunkle, schwarze Nichts.