Nahaufnahme: Michél Kekulé

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Sandra Köthemann – aus der Bildredaktionsklasse 2022/2023 – bat den Fotografen Michél Kekulé aus der 1. Fachklasse bei Maria Sewcz, uns einen Einblick in die Entstehung seiner Fotos zu geben.

Ich begleitete im März und April 2022 die Sea-Watch 3 auf einer Mission in den internationalen Gewässern des Mittelmeeres vor der libyschen Küste als Helfer und Fotograf. Die Route über das europäische Mittelmeer führte seit 2014 mehr als 25.000 Menschen auf der Flucht in den Tod. Ein Massensterben vor der eigenen Haustür, während die Festung Europa weiterhin ihre Türen verschlossen hält. Dieses Thema begleitete mich, seitdem ich politisch denken kann. Ich beobachtete, wie die mediale Aufmerksamkeit zwischen all den aktuellen Krisen auf der Welt zu diesem Thema abnahm. Für mich stand die Entscheidung fest, einen Beitrag zu leisten.

Das Bild stammt aus meiner Serie „50_15“. Sie dokumentiert Überleben und Sterben, rechtzeitige Hilfe und verlorene Versuche. Es zeigt einen Überlebenden.

Um die Mittagszeit am 09. April 2022 erhielt die Besatzung der Sea-Watch 3 einen Notruf für ein in Seenot geratenes Boot. Über 50 Menschen waren bereits im Wasser, hieß es. Es musste davon ausgegangen werden, dass es sich um ein Boot mit Geflüchteten handelte. Für diese Fälle werden speziell für Rettungseinsätze trainierte Crews auf zwei Schnellbooten vom Mutterschiff zur Unglücksstelle entsandt. Ich war Teil einer solchen Crew. Als die Schnellboote der Sea-Watch 3 am Unglücksort eintrafen, war die Situation chaotisch und außer Kontrolle geraten. Das Schlauchboot mit geflüchteten Personen war gesunken. Dutzende von Menschen kämpften im Wasser ums Überleben. Die Zahl, der sich im Wasser befundenen Personen, war unübersichtlich. Menschen schrien laut und klammerten sich an den schwimmfähigen Gegenständen, die ihnen von der Rettungscrew zugeworfen worden sind. Ein Schiff, der so genannten libyschen Küstenwache, war ebenfalls vor Ort, auch mit einem kleinen Beiboot. Vor Angst und Panik des vermeintlich bevorstehenden Pushbacks durch die libyschen Kräfte, sprangen die fast zu Tode erschöpften Verunglückten zurück ins Wasser und mussten erneut vor dem Ertrinken gerettet werden. Es kam zu massiver Gewaltanwendung durch die libyschen Kräfte auf ihrem Schiff. Alle geretteten Personen konnten sicher auf die Sea-Watch 3 gebracht werden. Die Überlebenden erzählten, dass sie Verwandte ertrinken sahen. Augenzeugenberichten zufolge sind 15 Menschen ertrunken. Auch wir als Crew mussten bezeugen, dass für einige jede Hilfe zu spät kam.

Die größte Herausforderung war, das Erlebte gesund zu verarbeiten und wieder einen Weg in den Alltag zurückzufinden. Nach meiner Rückkehr beschrieb ich das Ganze als eine kriegsähnliche Situation. Ich hatte fotografiert und gleichzeitig die Ertrinkenden aus dem Wasser ins Rettungsboot gezogen. Mir schlug auch Kritik und Hass entgegen. Neben rassistischen und menschenverachtenden Kommentaren, wir hätten diese Menschen lieber ertrinken lassen sollen, wurden mir und vielen meiner Kolleg*innen vorgeworfen, sich, aus einer weißen und privilegierten Position heraus, am Leid anderer Menschen für die fotografische Karriere zu bereichern und die eigene narzisstische Wunde heilen zu wollen. Ich denke, hier kann nur jede*r, der/die fotografiert und aus einem Krisengebiet kommt, für sich selbst auf die Suche nach den eigenen Motiven gehen. Für mich, aus meiner fotografischen Tätigkeit und der eigenen Biografie heraus, ist es das intrinsische Bedürfnis, unsichtbares Leid sichtbar zu machen.

Im Zeitraum vom 02. bis 30. März 2023 ist die Serie „50_15“ mit Stimmen von Überlebenden im Atelier für Photografie, Christburger Straße 18 in Berlin, zu sehen. Die Ausstellung findet im Off-Programm des European Month Of Photography Berlin (EMOP) statt. Die Vernissage ist am Donnerstag, den 2. März 2023 und beginnt um 19 Uhr.

Michél Kekulé ist 1991 in Fulda geboren und lebt in Berlin. Er ist ausgebildeter Notfallsanitäter und war in der prähospitalen Notfallmedizin tätig, bevor er zur Fotografie fand. Seit 2021 studiert er an der Ostkreuzschule für Fotografie. Sein Schwerpunkt bildet die Dokumentarfotografie und die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen.