Ein schönes Bild – Teil 1

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön” nicht vorkommt. Jeder der Bildredakteur*innen sollte ein Bild auswählen, das ersie in dem vergangen Jahr „entdeckt” hat und begründen, warum ihmihr dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es ihn*sie nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Aus der Serie Look at me like you love me von Jess T. Dugan. Ausgewählt von Oriana Striebeck.

Die Besonderheit dieses Porträts liegt in seiner Vielschichtigkeit – in der Einfachheit der Komposition und gleichzeitigen Komplexität der Thematik. Es ist ein Porträt einer jungen Person. Am Strand, Oberkörper frei, präsent im Moment. Jess T. Dugans Fotografie beschäftigt sich mit der Thematik der Geschlechtsidentität, mit dem Wunsch nach Freiheit und dem gleichzeitig einhergehenden Verlust, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Authentisch, angstfrei und selbstbestimmt die eigene Geschlechtsidentität zu leben, das ist ein Privileg. Ein Privileg, das Cis Menschen oft als gegeben hinnehmen, selten hinterfragen und wenig bewusst wertschätzen. Binärer Geschlechterdualismus ist ein soziokulturelles Konstrukt, welches darauf beruht, dass es nur zwei verschiedene und entgegengesetzte Geschlechter gibt: Mann und Frau. Die Option Junge oder Mädchen, Mann oder Frau, männlich oder weiblich ist gesellschaftlich auferzwungen und diskriminierend – allen Menschen gegenüber, die sich mit einem Geschlecht identifizieren, das außerhalb dieser binären Kategorie liegt. Dieses Porträt ist ein Abbild einer jungen nicht-binären Person, die es wagt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Es ist ein Bild, das berührt und beeindruckt, da die porträtierte Person Selbstbewusstsein ausstrahlt und dennoch Verletzlichkeit zeigt und den Betrachter*innen dadurch fragend und zugleich fordernd gegenübertritt. Jess T. Dugan, selbst nicht-binär, feiert durch Fotografie die Schönheit der Geschlechtervielfalt und sieht durch die Kamera jene Personen, die von anderen gesehen werden sollen – als Teil unserer Gesellschaft, als wertvolle Bereicherung einer diversen Gemeinschaft.

Aus der Serie saagaratat (übersetzt „Strand“) von Lasse Branding. Ausgewählt von Viola Hasse.

Der Ganges ist der heiligste Fluss Indiens. Die Aufnahme entstand 2019 in der Stadt Kanpur, die in Indien vor allem für die Herstellung von Lederprodukten und die einhergehende Umweltverschmutzung bekannt ist. Das Bild wurde auf der Brücke aufgenommen, welche den urbanen Teil der Stadt von dem Gebiet der Lederproduktion trennt. Wir sehen, wie die Bewohner*innen und Arbeiter*innen der Lederstadt ihren freien Tag an dem unbebauten Ufer des Flusses genießen und wie sie mit Netzen und Angeln versuchen, Fische zu fangen. Zunächst besticht das Bild durch die monotone Farbwelt, Wasser und Erde im gleichen Farbton, kaum grün. Die beiden großen, beigen Fläche lenken den Blick auf die klein abgebildeten Personen, diese werfen Fragen auf. Was tun die Menschen dort? Suchen sie etwas? Reinigen sie das Wasser? Angeln sie? Durch die Aufsicht gewinnt das Bild an Abstraktion und lässt die Situation für die betrachtende Person surreal wirken. Die Aufnahme erinnert an eine triste Version der uns bekannten Urlaubsfotos, mit hellen Sandstränden, türkisfarbenem Wasser und Menschen in schicker Badebekleidung, unter weiß-gelb gestreiften Sonnenschirmen; zeigt sie jedoch eine ganz andere Realität in einem Slum Indiens: prekäre Lebensbedingungen, die in starkem Kontrast zu Ersterem stehen. Es animiert, seine Privilegien zu hinterfragen, und so wirkt das Bild nicht nur auf gestalterischer und kompositorischer Ebene, sondern regt ebenso zum Nachdenken an.

Aus der Serie Macht Liebe von Anne Morgenstern. Ausgewählt von Sofia Velasquez.

Zwei innig, lasziv aneinander geschmiegte Beinpaare. Satin, eine goldene Uhr, ein knalliges Magenta, im Anschnitt Cowboystiefel. Die Fotografie von Anne Morgenstern zeigt die Vertrautheit zweier Menschen in einem farbenfrohen Setting. Form, Farbe und Materialität sind in einem ausgewogenem Zusammenspiel. In einem engen Bildausschnitt zielt der Blick der Fotografin unmissverständlich in die Körpermitte der Protagonist*innen und obwohl wir deren Gesichter nicht sehen, bekommt man als Betrachter*in sofort ein Gefühl für ihre zwischenmenschliche Beziehung. Ein intimer Moment, der flüchtig zu sein scheint. Diese Aufnahme von Anne Morgenstern ist im Rahmen ihrer Serie Macht Liebe entstanden. Hier geht es um das Altern. Aber auch um die Liebe. Durch ihre Komposition stellt sie veraltete gesellschaftliche Rollenbilder infrage und zeigt metaphorisch mit einer hohen Sensibilität neue Formen des Miteinanders. Ihre sowohl zärtliche als auch schonungslos direkte Darstellung von norm-abweichender Körperlichkeit stellt tradierte Sehgewohnheiten infrage und stellt einen Appell an die Gesellschaft für mehr Akzeptanz individueller Lebensgestaltung dar. Es ist ein berührendes Porträt, das vor Lebensgefühl nur so strotzt und zeitgleich mit einer Ruhe die grenzenlose Liebe der Menschen demonstriert. 

Foto: Yushi Li

Aus der Serie My Tinder Boys von Yushi Li. Ausgewählt von Marina Cordes.

Ich bin beeindruckt von der Sanftheit, die von diesem Bild ausgeht. Es ist die Nähe, die mich anhielt, mich sogar irritierte. In gewisser Weise ist der Bildinhalt gewöhnlich, oder zumindest ist es nicht besonders ungewöhnlich, im eigenen Zuhause nackt zu sein. Das Ungewöhnliche ist das, was sich außerhalb dieser ersten Wahrnehmung befindet. Die Fotografie zeigt ein intimes Porträt einer Person, nackt am Küchentisch sitzend. Weiches Fensterlicht betont seine helle Haut und ließ meinen ersten Blick auf seiner Körperlichkeit und besonderen Haltung verweilen. Der häusliche Raum kommt mir vertraut vor, erzählt mir etwas über seine Lebensrealität und deutet einen Geschmack an. Subtil bekomme ich ein Gefühl von ihm als Menschen. Ich nehme die Harmonie von hellblauem Hintergrund und roten Farbkontrasten wahr, die sich horizontal durch das Bild ziehen: von dem Gefäß im Hängeschrank, dem Schriftzug auf der Verpackung, den Flaschen daneben, über die zwei kleinen Erdbeeren auf der Torte bis hin zu den roten Blüten und ihrem Topf. Wurde die Blume so vorgefunden oder von der Fotografin arrangiert? Ist sie echt? Ich muss lächeln. Sie sieht nach einer Blume aus, die kurzerhand mitgenommen wurde, und von der man erwartet, dass sie ohne größeren Aufwand Gemütlichkeit schafft. Die aber doch nur ein Versuch in und aus Plastik bleibt. Ich denke über die große Menge Coca-Cola nach. Mir gefällt das Detail, dass es sich um ein 12er-Pack „Diet Coke“ handelt. Sein andächtiger Blick auf das große Stück Erdbeer-Sahnetorte wird dadurch in seiner Bedeutung verstärkt. Der Bildtitel „Tom, 20,5 km away“ gibt einen Hinweis auf den Kontext des Bildes: In der Serie My Tinder Boys schaut Yushi Li auf ihre Eroberungen durch die gleichnamige Dating-App. Li war angezogen von der Idee, die Porträtierten zu austauschbaren Objekten ihrer Fantasie zu machen – ähnlich wie es sich mit den objektivierten Körpern von Frauen verhält, die der langen Geschichte des männlichen Blicks ausgesetzt sind. Sie nutzte die App, um ihre Matches zu fragen, ob sie sie fotografieren dürfe. Die meisten antworteten nicht. Andere stellten sexuelle Bedingungen, auf welche sie jedoch nicht einging. Und etwa fünf Prozent stimmten zu. Tom ist einer von ihnen. Eindrucksvoll an dieser Fotografie ist für mich, wie Li Nacktheit und Begehren zeigt, ohne dabei den Menschen zu sexualisieren. Konträr zu stereotypen Darstellungen erscheinen diese Männer zart, natürlich und ein bisschen verletzlich. Menschlich.

Aus der Serie On the Path of Destruction von Oona Oikkonen. Ausgewählt von Valentina Crosato.

Meine ganze Aufmerksamkeit galt der warmen Ocker-Farbe, der surrealen Atmosphäre und irgendwie auch dem Gefühl der Bedrohung. Die Bäume, die Äste und die fallenden Blätter, die sich von links nach rechts und umgekehrt bewegen, ließen mich den Orientierungssinn verlieren. Das Wasser, in dem sich die Landschaft spiegelt, verstärkt dieses Gefühl der Verwirrung. Zuerst habe ich gar nicht bemerkt, dass jemand auf dem Baum liegt. Der Grund, warum ich dieses Bild ausgewählt habe: Es ist spannend, fragend und fotografisch harmonisch. Die verschiedenen Elemente kreieren eine wohlbalancierte, aber auch geheimnisvolle Komposition, die mich neugierig macht. Sie erfordert eine gewisse Konzentration und braucht Zeit, um alle Details zu erkennen. Dieses Bild ist Teil der Serie Tuhon Tiellä – Auf dem Weg der Zerstörung – der finnischen Fotografin Oona Oikkonen. Sie erforscht die Welt der Klimaaktivist*innen in Finnland und Belgien und bietet uns einen intimen und tiefen Blick auf dieses Thema: ein Kontrast zu den lauten Protestbildern, die uns gegenwärtig in den Medien begegnen. Wie Oikkonen schreibt, hat der Ausdruck Tuhon Tiellä eine doppelte Bedeutung: „Wir können uns der Zerstörung in den Weg stellen oder den Weg zur Zerstörung versperren. Zerstörung und Hoffnung gehen Hand in Hand.“ Der Mann, der verträumt auf dem Baum liegt, der sogenannte hurmio, der im Finnischen das Gefühl des fasziniert seins beschreibt, beeindruckt mich durch seine Ruhe und Friedlichkeit. Mir gefällt die Idee, einen Aktivisten auf eine gewaltfreie Weise abzubilden. Meiner Meinung nach schafft es dieses Bild perfekt, die tiefe Verbindung zwischen Mensch und Natur darzustellen.