Nahaufnahme: Marianne Sievers

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Valentina Crosato – aus der Bildredaktionsklasse 2022/2023 – bat die Fotografin und ehemalige OKS-Studentin Marianne Sievers, uns einen Einblick in die Entstehung einer ihrer Arbeiten zu geben.

Durch die Fotografie kann ich mich nicht nur fremden Orten und Menschen nähern, sie kennenlernen, sondern auch bekannte Orte und Menschen aus einer anderen Perspektive wahrnehmen – aus der Perspektive der Beobachtenden, der durch die Kamera blickenden. Indem mich die Kamera etwas außen vorlässt, überwindet sie paradoxerweise an dieser Stelle für mich eine kleine Distanz. Eine, die auch zwischen vertrauten Menschen selten ganz verschwindet. Sie lässt mich meinen Gegenüber ganz genau wahrnehmen, lässt mich eintauchen in einen Moment, in dem mein Blick durch die Linse mit meinem Gegenüber verschmilzt und alles andere nebensächlich wird. So erkenne ich Besonderheiten in den Persönlichkeiten und Schönheiten der Gesichtszügen, die ich vorher nie so wahrgenommen hatte. Eine Erfahrung, die ich auch in der fotografischen Beschäftigung mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder mache.

Sebastian ist seit seiner Geburt geistig behindert. Ich habe noch drei weitere Geschwister und so war er mit seinen Eigenheiten einfach immer mit dabei, war Teil der ganzen Familie. Wir hatten immer ein liebevolles, wenn auch kein überaus inniges Verhältnis. Sebastian teilt sich kaum selber mit, interagiert wenig mit seinen Mitmenschen und fast nie direkt. Er braucht viel Hilfe. Er könnte nie alleine wohnen und leben. Eine komplexe Beziehung oder ein Gespräch ist kaum möglich. Wenn er spricht, spricht er von sich in der 3. Person. Ich freue mich immer ihn zu sehen, wenn wir gleichzeitig zu Hause sind, denn er ist in einer speziellen Einrichtung untergebracht und ich wohne seit vielen Jahren nicht mehr bei meinen Eltern. Dann gucke ich ein Kinderbilderbuch mit ihm an oder wir decken den Tisch gemeinsam. Es ist schwer zu beschreiben, wie er ist, aber da er sich seit seinem vierten Lebensjahr geistig nicht wesentlich entwickelt hat, ist er in den letzten Jahrzehnten sozusagen der gleiche geblieben, nur eben gewachsen. Vielleicht liegt es auch mit daran, dass ich überrascht war, welcher Mensch in meiner (nicht abgeschlossenen) Fotoserie self-reliant zu sehen ist. Mir wurde bewusst, dass er zwar im Vergleich zu uns anderen sehr abhängig ist, aber dennoch eine eigenständige Persönlichkeit besitzt, mit einem eigenen, wenn auch leisen Charakter. Ich fragte mich, ob er das wohl weiß? Wie nimmt er sich selbst wahr? Er merkte durchaus, dass er fotografiert wurde, nahm die Aufmerksamkeit, die auf ihm lag, wahr, doch es beeinflusste kaum sein Handeln. 

Auf dem Foto, dem 3. Bild der 10-teiligen Serie, duscht ihn meine Mutter. Sie muss ihm beim An- und Ausziehen helfen, beim Einseifen und eben auch beim Rasieren. Meine Mutter ist sehr praktisch veranlagt, daher wird einfach kurzerhand in der Dusche rasiert – Seife und Wasser sind ja schon da. Sie hat viel zu tun, daher der bestimmte und doch liebevolle Griff, die schnelle Handbewegung. Mein Bruder hat nie etwas zu tun, sein Tag wird von anderen gestaltet. Vielleicht würde er am liebsten eine Stunde unter dem warmen Wasserstrahl stehen und trüge den Bart am liebsten lang – wir werden es nie wissen. Für mich zeigt sein Gesicht zum einen den Genuss der Dusche, zum anderen aber auch einen gewissen Widerwillen, dass ihm jemand im Gesicht herumfuhrwerkt. Er lässt es über sich ergehen und sieht danach glücklich und sauber aus. Vielleicht hätte er gerne das rote T-Shirt getragen und eine Jogginghose statt der Jeans – vielleicht dachte er über die Wasserverschwendung nach, ja, vielleicht macht er sich viel mehr Gedanken über uns alle und die Welt, als wir je wissen werden. Ich kenne ihn nun ein bisschen mehr – er mich vielleicht auch. 

Marianne Sievers ist studierte Soziologin und Islamwissenschaftlerin und schreibt nebenher frei für deutsche Medien. Nach einigen Arbeits- und Lebensjahren in Jordanien, in denen sie die Kamera stets begleitete, fasste sie im ersten Corona-Lockdown den Entschluss, nochmal zu studieren – Fotografie. Nach einem Jahr an der Neuen Schule für Fotografie wechselte sie vor 1,5 Jahren zur Ostkreuzschule. Ihr fotografisches Interesse gilt der dokumentarischen Fotografie und Urban Landscape.