OKS-lab fragt… Nadja Masri

„Lebenswelt“ – acht fotografische Positionen

Die Fotoausstellung präsentiert bis 22. Mai 2022, im Schloss Ellwangen, die Arbeiten von preisgekrönten Fotograf*innen: Toby Binder, Sibylle Fendt, Natalia Kepesz, Jana Sophia Nolle, Rebecca Sampson, Alina Simmelbauer, Magdalena Stengel und Eva Zanettin. Die Ausstellung wurde von Nadja Masri, Leiterin des Fachbereichs Bildredaktion an der OKS, kuratiert. In einem Interview hat mir Nadja interessante Insider Informationen über die Ausstellung verraten.

Kannst Du mir erzählen, wie die Idee entstanden ist und wie lange hat es von der Geburt der Idee bis zum Eröffnungstag gedauert?

Silke Schwab-Krüger – Kuratorin, Künstlerin und Kunsterzieherin – hat mir erzählt, dass sie für den Kunstverein in Ellwangen im Schloss die erste Fotoausstellung organisieren möchte und hat mich um Rat gefragt. Ich habe ihr dann eine Reihe an Arbeiten von Fotograf*innen vorgeschlagen, deren Arbeiten, Themen, Stil ich gut finde. Silke war begeistert und so begann eine wunderbare Zusammenarbeit. Wir trafen uns Anfang Oktober und wählten acht Fotograf*innen für vier Räume aus und fragten diese an: Toby Binder (Youth of Belfast), Sibylle Fendt (Holzbachtal, Nothing, Nothing), Natalia Kepesz (Niewybuch), Jana Sophia Nolle (Living Room), Rebecca Sampson (Apples for Sale), Alina Simmelbauer (Garcías Tochter), Magdalena Stengel (±100), und Eva Zanettin (Womanhood).

Alle sagten zu, was uns sehr gefreut hat, und dann konnte es losgehen. Wir hatten bis zur Ausstellungseröffnung am 20.03.2022 sechs Monate Zeit, für weitere Sponsorensuche, um Texte und Fotos für Plakat und Flyer zusammenzustellen, die Ausstellung zu bewerben (inklusive Pressegespräch), den Fotowettbewerb auszuschreiben, ein Begleit-Booklet für Schüler*innen zu erstellen, Exponate persönlich in Berlin abzuholen, alle Bilder aufzuhängen. Wir wurden ganz toll vom Kunstverein unterstützt und die Fotograf*innen waren großartig in der Zusammenarbeit, aber es war für uns beide viel Arbeit, weil wir ganz viel selbst gemacht haben.

Sehr gefreut hat uns, dass sechs der acht Fotograf*innen zur Ausstellungseröffnung nach Ellwangen kommen konnten. Nach den vielen Lockdowns, haben wir es alle genossen zusammen Zeit zu verbringen und uns auszutauschen. Bei der Vernissage war auch das Kulturmagazin Kunscht! vom SWR da. Der TV-Beitrag ist noch bis zum 22.05. in der Mediathek zu sehen.

Die Ausstellung zeigt Arbeiten von preisgekrönten Fotografen und Fotografinnen. Kannst Du etwas zu der Auswahl erzählen, wobei ein Fotograf und sieben Fotografinnen beteiligt sind? 1 zu 7, ist es ein Zufall?

Die Idee ist / war großartige Fotografie über wichtige gesellschaftsrelevante Themen in die Provinz zu bringen. Raus aus der Babbel von Leuten, die in der Regel liberal, offen und kunstaffig sind, rein in eine Gesellschaft, die zum Teil konservativ ist und nicht mit der Selbstverständlichkeit in Kunstausstellungen geht wie die urbane Bevölkerung.

Wir haben die Arbeiten nach Themen und Qualität ausgewählt, nicht nach Geschlecht. Ich habe überlegt, wen ich alles gut finde, welche Arbeiten zusammenpassen, wir aber gleichzeitig eine thematische Vielfalt erhalten. Bei allen Serien dreht es sich um den Menschen in seiner Vielschichtigkeit in unserer Vielfaltsgesellschaft. Die Serien sollen Einblick geben in andere Lebensweisen und Gesellschaftsschichten, in eine Realität, die nicht die eigene ist, neugierig machen mehr wissen zu wollen, dabei unterstützen Stereotypen zu überdenken oder einfach nur berühren.

Ganz wichtig war auch, welche Arbeiten waren schon mal ausgestellt. Der Kunstverein hat nur ein sehr kleines Budget und somit war klar, dass wir mit vorhanden Exponaten arbeiten müssen. Nur eine Fotografin, Eva Zanettin, hat speziell für die Ausstellung alle Prints in den gewünschten Größen für die Petersburger Hängung geprintet.

Um das Budget für die Künstler*innen zu erhöhen, sind wir selbst auf Sponsorensuche gegangen und haben lokale Firmen, Unternehmer und Ärzte für unsere Sache gewinnen können. Ergänzend zur Ausstellung haben wir einen Fotowettbewerb für kids & teens organisiert. Fotografie ist zugänglicher als andere Kunstformen und wir wollen mit der Fotoausstellung viele Menschen erreichen auch die jungen, die vielleicht noch nie in einer Galerie oder einem Museum waren, die sich noch nie über Bilder mit gesellschaftlichen Themen auseinandergesetzt haben und ihnen Lust machen ihre eigene Lebenswelt zu fotografieren.

Wie habt Ihr die Bilder selektiert, wie lief der ganze Kurationsprozess?

Als ich meiner Tochter erzählte, dass ich eine Ausstellung kuratiere, meinte sie „aber bitte nicht nur Bilder an der Wand“. Und Recht hat sie. Heute erzählen viele Fotograf*innen ihre Geschichten multimedial. Es war uns wichtig, eine zeitgenössische Fotoausstellung zu machen und die Möglichkeiten des Raums zu nutzen (im Gegensatz zum Papier oder zum Internet). Wir wollten diese unterschiedlichen, zum Teil komplexen Geschichten auf keinen Fall in gleich großen Bildern linear gehängt erzählen, sondern eine individuelle Präsentation für jede Geschichte.

Der Schwerpunkt in der Ausstellung liegt auf der dokumentarisch künstlerischen Fotografie, wird aber mit Text, Videos, einem Objekt und einer Bodeninstallationen ergänzt, so dass die Geschichten noch eindrücklicher erzählt werden. Wir haben vorhandene Ausstellungskonzepte adaptiert, so dass sie in den Räumen im Schloss funktionieren: alleine wie im Zusammenspiel.

Steht man vor dem ersten, größten Raum wird man auf zwei großformatigen Portraitbildern von einem eindringlichen, intensiven Blick eines Mädchens und eines Jungens in den Bann gezogen. Der erste Raum ist sicherlich der Zugänglichste: Toby Binder führt uns in die Welt der Jugendlichen in Nordirland, die alte Muster, die Konflikte ihrer (protestantischen und katholischen) Eltern überwinden wollen.

Magdalena Stengel zeigt uns im Gegensatz dazu die Welt der Hundertjährigen, deren Zahl immer größer wird, die aber eben nicht nur gebrechlich, sondern immer noch sehr agil und lebenslustig sind. Jana Sophia Nolle thematisiert anhand von Obdachlosigkeit die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich.

Im zweiten Raum geht es um Migration: Sibylle Fendt und Rebecca Sampson bringen uns das immer wieder kehrende, schon so oft gehörte, gelesene, gesehene Thema der Migration auf sehr eindringliche Weise nah. Sibylle Fendt reiste drei Jahre lang immer wieder in den Schwarzwald und hat dort männliche Geflüchtete besucht und portraitiert – das Einzige was sich verändert ist die Landschaft, der Alltag der jungen Männer bleibt eintönig.

Rebecca Sampson nimmt uns mit nach Hong Kong: weibliche Arbeitsmigrantinnen aus dem konservativen, muslimisch geprägten Indonesien arbeiten und leben dort unter prekären Bedingungen und konstruieren sich eine Parallelwelt.

Im dritten Raum geht es um Identität: Alina Simmelbauer arbeitet ihr eigene Gechichte auf: sie ist das Kind eines kubanischen Vertragsarbeiters in der ehemaligen DDR. Nach Ablauf der Vertragszeit wurden die Arbeiter zurück in ihre Heimatländer geschickt. Freundschaften, Beziehungen und Familien wurden dadurch getrennt.

Bei Eva Zanettin geht um ein modernes, zeitgemäßes Bild von Frausein und Weiblichkeit.

Im letzten Raum sind wir wieder bei der Jugend. Natalia Kepesz nimmt uns mit nach Polen in Militärcamps für kids, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen. Die Serie gewinnt durch den aktuellen Krieg in der Ukraine an Brisanz und Bedeutung.

Das Bild auf der Titelseite des Booklets ist von Eva Zanettin aus der Serie Womanhood: kannst Du uns sagen, warum ihr dieses Bild ausgewählt habt?

Ein modernes Madonnenbild für das katholisch geprägte Ellwangen mit einer spätromanischen Basilika und einer Wallfahrtskirche. Das Bild provoziert (den einen oder anderen), stellt Fragen und lädt mit einer unglaublich positiven Energie ein – in die Lebenswelt Ausstellung. Für uns steht das Bild symbolisch für‘s Leben und macht neugierig, mehr erfahren zu wollen.

Kannst Du Dir vorstellen, weitere Ausstellungen zu kuratieren (hoffentlich in Berlin)?

Zwei Dinge haben mich total begeistert: Silke und ich sind „powermates“ und waren ein mega Team. Die Ausstellung ist sicherlich nicht unsere letzte gemeinsame Aktion, denn die Zusammenarbeit hat unglaublich Spaß gemacht und war sehr bereichernd.

Ich arbeite normalerweise in Großstädten. Der Reiz war an dem Ort zu wirken, wo ich lebe, in der Provinz. Wir haben Führungen gemacht für Erwachsene und sind mit Schüler*innen durch die Ausstellung. Die Resonanz war sehr positiv und die Erfahrungen mit den jungen wie älteren Menschen über die Bilderserien in den Dialog über wichtige gesellschaftliche Themen zu treten war einfach großartig und aufschlussreich.

Die Arbeit war aber ehrenamtlich und es ist toll, wenn man die Möglichkeit und den Freiraum hat, mit einer „partnerin in crime“ etwas zu machen, wofür das Herz brennt. Also ja, vielleicht, irgendwann mal wieder, wenn es passt, so wie dieses Mal. Jetzt gerade konzentriere ich mich erst mal wieder mit Freude und Leidenschaft auf meine Lehre.

Nadja Masri leitet seit 2011 die Klasse Bildredaktion an der OKS und bildet mit großer Leidenschaft visuelle Expert*innen aus. Die Kommunikationswissenschaftlerin (M.A.) lehrt außerdem an der Fachhochschule Dortmund und seit 2020 auch wieder – online – am International Center of Photography (ICP), New York. Zudem gibt sie Workshops, hält Vorträge, fungiert als Mentorin und juriert Fotowettbewerbe. Sehr geprägt hat sie ihre Zeit als Senior Photo Editor und Bureau Chief bei der Zeitschrift GEO in der pulsierenden Metropole New York und ihre Arbeit bei der Agentur Ostkreuz in Berlin.

Alle Fotos: © Kunstverein Ellwangen

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