OKS-lab fragt Masha Pryven

Masha Pryven geboren 1988, aufgewachsen in Lugansk, Ukraine, lebt seit 2014 in Berlin. Studium in Kyiv und an der Washington University in St. Louis, M. A. in Literatur, USA Fulbright Graduate Award. Ausbildung an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin.

Einhundert Jahre nach der Entstehung von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ macht sich die Fotografin Masha Pryven auf Spurensuche nach den realen und imaginären Orten des Romans.

Die Fotos in diesem Band fungieren als Sehnsüchte eines Kindes, als Fragmente des eigenen Heranwachsens, als Fantasien, als noch zu entdeckende Lebensgeheimnisse und als Vorahnungen zukünftigen Scheiterns und unerfüllter Träume. Sie laden in einer Reihe von Rückblenden dazu ein, einen voyeuristischen und intimen Blick auf ein persönliches Leben zu werfen und Vergnügen dabei zu haben, ein Leben zu betrachten und zu erinnern, das nicht das eigene ist.

Buchcover „Der Weg nach Combray“

Foto: Masha Pryven

Was bedeutet dir der Roman: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und was hat dich gereizt die Orte der Geschichte fotografisch zu erkunden?

Die Literatur generell bedeutet mir viel. Meine frühe Leidenschaft an der Literatur hat geholfen, die schwierige Zeit nach dem Kollaps der Sowjetunion als Kind in der Ukraine zu überstehen und später wurde mir durch ein Stipendium das Studium in den USA ermöglicht. Ich erwähne es, um zu erklären, dass ich einen starken Bezug zur Literatur habe und lasse mir Bücher grundsätzlich nicht empfehlen. Eines Tages, vor drei Jahren, bin ich wach geworden mit dem Gedanken, dass ich für diesen Roman bereit bin, obwohl ich gar nicht an ihn gedacht habe. Und ganz einfach: wie jedes wichtige Buch hat auch dieses mich verändert. Diese Veränderung ist primär in einem Gefühl verankert: was ich lese greift durch Zeit und Raum, ich erfahre die Welt und bin ein Teil davon. Es löst starke Momente des Glücks in mir aus. Und genau dieses Glück wollte ich weiter als Fotografin ausleben. Außerdem, wollte ich wissen: was finde ich an diesen Orten und gibt es da überhaupt etwas zu finden.

Welcher Moment in dem Entstehungsprozess der Fotoserie hat dich am nachhaltigsten geprägt?

Foto: Masha Pryven
Foto: Masha Pryven

Der wichtigste Moment ist eine Fiktion, eine Geschichte, eine erzählerische Technik, die wir Menschen so mögen. Wie du auch sagst, es ist ein Entstehen, ein Prozess. Als ich zum ersten Mal in die französische Stadt Cabourg (im Roman: Balbec) kam, fand ich gleich das Grand Hotel, wo der Erzähler mit seiner Oma die Sommer verbrachte. Die Fenster sind tatsächlich dem Ozean direkt zugewandt. Der Ozean trifft den blauen Himmel, unten gibt es eine schmale Treppe, die die Promenade mit dem Strand verbindet und auch ein paar Menschen am Wasser. Ich fragte mich was hier aus dem Anfang des XX Jahrhunderts erhalten ist und was sich verändert hat. Ich weiß aber auch, dass Proust als er nach Cabourg ging etwas wilderes gesucht hat: Felsen, Steine, einen Ozean. Ein paar Gebäude waren ihm schon zu viel Zeitgeist. Also hat er auch nach dem gesucht, was es da vor seiner Zeit vermutlich gab; so wie ich nach etwas gesucht habe, was vor meiner Zeit schon existierte. Proust hat also von der vergangenen romantischen Epoche mit ihrer Idee der ungezähmten Natur geträumt; für mich ist seine Epoche durch den Roman so ein Sehnsuchtsort geworden. Da taucht man ein in die innere Bildersammlung und lässt sich treiben.

Wie hat es sich angefühlt den Roman durch die Kamera neu zu entdecken?

Es war sehr spannend, entstandene Bilder haben mich zurück zu verschiedenen Szenen aus dem Buch geführt und nicht andersrum. Es gibt ein Foto, wo ein Kind auf die Luftakrobatin in die Zirkusmanege schaut. Im Buch schaut sich der Erzähler ein Theaterstück mit La Berma in der Hauptrolle an (möglicher Prototyp Sarah Bernhard). War der Erzähler wie das Kind in meinem Bild von der Frau so überwältigt? Hat er sich auch so hingezogen gefühlt?

Deine Fotos schaffen eine Art Nähe und Distanz zugleich. Wie hast du dich den Menschen und den Situationen angenähert?

Die Nähe: sie hat vielleicht mit dem inneren Gefühl zu tun. Ich mache nichts Falsches, ich verstecke mich nicht, ich komme so nah wie ich muss, fotografiere offen. Die Leute, die mir an diesen Orten begegnet sind, sind ja die Figuren aus dem Roman. Die Distanz: ich bin eine Beobachterin, Leserin, Schauende.

Unterscheidest du selbst zwischen realen und fiktiven Orten?

Foto: Masha Pryven

Zu Fiktion und Realität will ich zwei kleine Geschichten erzählen. Das eventuelle Ziel meiner Reisen durch Frankreich war immer das Dorf Illiers-Combray. Es befindet sich 120 km vor Paris , wo der erste Teil “Combray” sich abspielt. Nach dem Weltruhm des Buches wollten einige Dörfer ein Prototyp für Combray sein aber Illiers hat gewonnen und wurde dann zu Illiers-Combray umbenannt. Beispiellos für Frankreich: ein Ort nennt sich nach dem fiktiven Roman. Wäre man nicht gerne bei so einer munizipalen Sitzung dabei gewesen? Unser Dorf hat die Kirche aus dem Roman, aber unseres hat das Haus der Tante Leonie. Zweite Geschichte: später habe ich mit meiner Freundin Ewa Maria Slaska, eine leidenschaftliche Proust Leserin, über dieses Dorf gesprochen: sie meinte die Seerosen befinden sich in Combray auf dem Weg in die Richtung Schloss Guermantes und ich meinte, nein, sie befinden sich auf dem Weg wenn man in Richtung Méséglise läuft. Ich sagte ihr, ich sei dort und wisse ganz genau, wo diese Blumen wachsen. Sie erwiderte, sie hätte aber das Buch zig mal gelesen.

Auf einer Abbildung ist ein Mensch zu sehen welcher sich nackt auf einem Feldweg von einem Dorf entfernt. Was löst diese Konstellation in dir aus?

Foto: Masha Pryven

Das Bild hat für mich natürlich einen inhaltlichen Bezug zu dem Roman: ein Kind verlässt seinen Kindheitsort. Dieses Foto ist jedoch nicht das zentrale in der Fotoserie; ich wollte nicht, dass meine Serie sich um männliche Protagonisten dreht. Der Erzähler im Roman ist ein Mann, Proust war ein weißer reicher Mann. Das erzählende Ich wurde lange männlich verstanden, das “Welterfahrene” war lang ein männlicher Akt. Aber ich glaube gute Geschichten sind die, die ihre Zeit überleben und aus neuen Perspektiven erzählt werden.

Du bist ganz im Osten der Ukraine in Lugansk aufgewachsen. Wie sehr hat das deine Suche nach der Kindheit, der Sehnsucht und der Zweideutigkeit in deinen Bildern beeinflusst?

Ich weiß es nicht, aber ganz sicher hat meine Kindheit in Lugansk schon sehr wenig mit einer Kindheit eines bourgeoisen Jungen mit künstlerischen Sensibilitäten aus Frankreich des XIX Jahrhunderts zu tun. Das Leben in den Nullerjahren war tough: Schule in zwei Schichten, regelmäßige Stromausfälle in Wohnhäusern, Mangel an Lebensmitteln, Kriminalität, Antisemitismus. Nur Freud weiß, ob ich mich deswegen nach Bildern einer schönen Kindheit sehne, obwohl ich nicht sagen kann, dass meine Kindheit unschön war.

Kurz nach deiner Buch Veröffentlichung von „Der Weg nach Combray“ griff Putin die gesamte Ukraine an. Wie sehr hat das deinen Blick auf deine Arbeit verändert. Was hat es mit dir gemacht?

Der 24. Februar war für mich ein schreckliches déjà-vu. Im Jahr 2014 sind die russischen Krieger in die Ostukraine gekommen und meine Familie musste fliehen. Diesmal wurde alles tausendmal zynischer, brutaler, skrupelloser. Dieser Krieg hat mich umgeworfen. Ich weiß noch, ich habe die nächsten Wochen nur Geld gesammelt, Wohnungen und Transporte gesucht, humanitäre Hilfe geschickt, Freiwillige vor Ort kontaktiert. Es war mir nicht nach Kunst. Wir haben mittlerweile ein Netzwerk, manche sind in der Ukraine, manche hier in Berlin, eine ist in den USA. Super starke, potente Frauen. Wir unterstützen einander und loben uns gegenseitig. Das bereitet mir ein wenig Freude, aber so richtig freuen kann ich mich in diesen Zeiten nicht. Jedoch ist mir dieses Buch wichtig. Momentan fühlt es sich aber wie ein Cut an: es geht um die verlorene „alte“ Welt, in der es für mich noch möglich war, mich mit dem Thema der Suche nach der Vergangenheit, mit etwas Leichtigkeit und Unbekümmertheit zu beschäftigen.

Was wird dich in Zukunft antreiben „Geschichten“ und „Träume“ über deine Bilder zu erzählen?

Begeisterung, Menschen, Liebe aber erst muss der Krieg vorbei sein.

Vernissage mit Buch Release von „Der Weg nach Combray“ hat am Freitag, den 29.04.2022 stattgefunden.

Wo: B23 Space, Greifswalderstraße 23

Eintritt frei

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Gespräch mit Ewa Maria Slaska am 21.05.2022 um 18 Uhr

Wo: SprachCafé Polnisch, Schulzerstraße 1

Eintritt frei