Ein schönes Bild – Teil 2

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als schön zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort ‚schön‘ nicht vorkommt. Jede*r Bildredakteur*in sollte ein Bild auswählen, das sie/er in dem vergangen Jahr ‚entdeckt‘ hat und begründen, warum ihr/ihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie/ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“

Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

Foto: Vivek Vadoliya mit dem Titel The Malik Sisters. Ausgewählt von Diana Decker.

Schon der erste Blick auf das Portrait erzeugt eine angenehme Ruhe, eine Gelassenheit und Geborgenheit, die zunächst vom warmen und natürlich weichen Licht her rührt. Die subtile und zugleich ungewöhnliche Anordnung der Gesichter drei junger Frauen – zwei betten ihre Köpfe ganz sanft auf das Gesicht einer dritten, liegenden Frau – suggeriert, dass sie eine intime und verbundene Beziehung zueinander haben. Mit ihren verschlossenen Augen brechen sie einerseits mit einem möglichen Dialog zu uns Betrachtenden und andererseits entziehen sie sich dem Blick von außen, was zu einer faszinierenden Spannung führt. Sie lassen uns nicht näher an ihrer Verbundenheit teilhaben.

Mit dem sehr eng gewählten Bildausschnitt lenkt der Fotograf den Fokus ausschließlich auf die ruhenden Gesichter, ihre sehr sanften Gesichtszüge, ihre dunklen, lockigen Haare und ihre Haut. Alle drei Frauen tragen einen Nasenpiercing, was ein Verweis auf ihre gemeinsame Geschichte und Identität sein könnte. Im Hintergrund ist der leuchtend blaue Himmel mit einer Wolke zu sehen, die den Kopf der rechten Frau umrahmt.

Die Fotografie The Malik Sisters stammt aus einer Auftragsarbeit, die Vivek Vadoliya für ein Modeunternehmen fotografierte. Es zeigt die Schwestern Rohi (24), Zohra (22) und Sive (20). In den 90er-Jahren wanderte ihr Vater Azah Malik aus Pakistan nach England aus, um dort sein Medizinstudium fortzusetzen – die drei Töchter sind also als Teil der pakistanischen Diaspora dort geboren und aufgewachsen. Zudem entstand dieses Portrait im Frühjahr 2020, zu einem Zeitpunkt, wo das lokale medizinische Versorgungsnetz kollabierte und die Londoner*innen zu Abstandsregelungen und individueller, häuslicher Isolation aufgefordert waren. Der Aktualitätsbezug und die Sehnsucht nach körperlicher Nähe lassen sich beim Betrachten des Bildes nicht wegdenken.

Die Arbeit des Fotografen Vivek Vadoliya ist ebenfalls von der eigenen Migrationsgeschichte geprägt, da er als britischer Inder zweiter Generation in London lebt und arbeitet. Mit seinen zärtlichen Portraits möchte Vadoliya in der Modefotografie unterrepräsentierte Gemeinschaften zeigen und die Einzigartigkeit von Subkulturen dokumentieren. Indem er seine Modelle stilistisch eindrucksvoll und mit einer zeitgemäßen Bildsprache in Szene setzt, erzeugt er einen neuen Blick auf diese Communities, der von Leichtigkeit und Wärme bestimmt ist.

Foto: Jonas Berndt aus der Serie Zwanzig. Ausgewählt von Julia Johanning.

Ziegen im Morgenrot. Ein neuer Tag bricht an. Auf unwegsamen Gelände, stoisch und gleichmütig, sehen wir eine Gruppe Ziegen stehen. Hinter ihnen, über den Bergen, tastet sich vorsichtig die Sonne hervor. Wir spüren förmlich die Wärme, die sie mit sich bringt, hören die Stille, die an jedem neuen Morgen erklingt. Die Szene vermittelt ein friedliches Dasein in unberührter Landschaft, die Sehnsucht nach Einfachheit erwacht, der Wunsch nach dem Leben selbst.

Jonas Berndt schießt dieses Foto auf einer kleinen Insel im Ionischen Meer. Auf dem gerade einmal 22 km² großen Eiland leben dauerhaft 20 Menschen. Der Name des Sehnsuchtsortes: Antikythera.

Die kleine, vorrangig sehr betagte Inselgemeinschaft, wächst in den Sommermonaten um einige Bewohner*innen. Den Rest des Jahres siedelt der Großteil von ihnen auf das Festland über. Die Übrigen fristen ein Dasein in Abgeschiedenheit – ein Leben in Kontemplation? Immer schon war Antikythera ein Ort des Exils, nicht selten unfreiwillig. Die bergige Landschaft und dadurch bis vor wenigen Jahrzehnten harte Lebensweise, zog mehr und mehr Auswanderung nach sich. Nunmehr sind es die Alten, die bleiben und dem Ort ihren Geist verleihen. Wie lange wird sich eine feste Gemeinschaft dort noch halten können, wie lange von Dauer sein?

Das Bild erzählt jedoch nicht nur vom Gefühl diesen Ortes, es erzählt von uns und unserem Überdruss an Konsumkultur, die den Wunsch erweckt, diese kleinen, von reiner Natur geprägten Orte zu erforschen, uns dort hin zu träumen. Das gar simple Leben, mit schroffen Felsen, salziger Meeresluft, das Wunder eines jeden neu anbrechenden Tages in seiner Ganzheit zu erfahren. Es lässt uns fragen, welches Leben wir leben wollen.

Jonas Berndt schafft durch seine metaphorische Fotografie einen Moment voller Hoffnung. Hoffnung für die Zukunft jenen Ortes und seinen Menschen, aber auch Hoffnung für uns selbst, eines Tages das Leben zu führen, das wir für lebenswert halten. So wie die Ziegen, stoisch und gleichmütig.

Foto: Stefano Mirabella aus der Serie DOM. Ausgewählt von Liane Gessner.

Nordpolen im Jahr 2021 irgendwo kurz vor Kaliningrad.

Sie heißt vielleicht Maria. Ihre Welt bröckelt. Die Häuser, die Straßen, die Gehwege. Nicht aber der Glaube. An den Einzigen. Der uns erlöst. Wenn wir ihm Opfer bringen.

Er heißt vielleicht Josef. Er wird groß und stark sein. Er wird Recht haben und Hunde. Selten weinen und am Sonntag in die Kirche gehen.

Sie werden vielleicht ein Kind haben und einen Platz im Leben. Vielleicht in die Stadt ziehen. Und doch immer wieder zurückkommen. Dahin, wo ein starker Glaube das Haus zusammenhält und mit Zukunft füllt.

Lass uns spielen, sagen alle und wissen genau was.

Stefano Mirabellas Foto gewährt uns einen Moment in die Kindheit in einem kleinen abgelegenen Dorf in Polen. Eine Landidylle.

Foto: Hannah Reyes Morales aus der Serie Roots from Ashes. Ausgewählt von Eva Neukirchner.

Geborgenheit ist das erste Wort, das mir beim Betrachten dieses Bildes in den Sinn kommt. Dieser Eindruck entsteht zum Einen durch das warme Licht, in das das Paar getaucht ist, und zum Anderen durch die vertraute Körperhaltung des Paares.

Die Stärke dieses Fotos liegt für mich nicht nur in seiner Komposition, sondern vor allem darin, dass es der Fotografin gelingt, die intime Beziehung zwischen den beiden abzubilden. Die Augen der Frau sind geschlossen, während sie und ihr Mann sich aneinander lehnen. Dennoch erzeugt die Gardine eine leichte Barriere und die Frau rückt unweigerlich in den Vordergrund. Dieses Detail weckt Neugier und wirft die Frage nach den Gründen für diese Darstellung auf.

Die Hintergrundgeschichte der Fotoserie eröffnet eine zweite, unerwartet düstere Ebene. 1944, während des zweiten Weltkriegs, vergewaltigte und folterte eine Gruppe japanischer Soldaten mehrere Frauen aus der philippinischen Stadt Pampanga. Diese Frauen kämpfen seit den 1990er Jahren für die Anerkennung dieser Verbrechen. Über die Hälfte von ihnen ist mittlerweile verstorben, ohne je eine Form von Wiedergutmachung erhalten zu haben. Hannah Reyes Morales dokumentiert in ihrer Fotoserie wie die „Malaya Lolas“, wie sie auch genannt werden, ihr Leben seit dem traumatischen Erlebnis wieder aufgebaut haben.

Auf dem Bild sind Marta und ihr Ehemann Apolinar in ihrem Haus in Pampanga zu sehen. Marta beschreibt die Unterstützung ihres Mannes als wichtigen Bestandteil in ihrem Heilungsprozess.

Foto: Flurina Rothenberger aus der Serie Female Beekeepers. Ausgewählt von Judith Fischer

Sieht man dieses Bild an, schaut man in eine vollkommene Natur in all ihrer Schönheit. Die Fotografie erzeugt durch ihre sanften Farben und dem noch viel sanfterem Licht ein Gefühl der inneren Ruhe, des Durchatmens. Man sieht in einen Garten, der durch verschiedene Grüntöne und Pflanzen einen staunen lässt, über die Vielfalt der Natur. Ein Baum in der Mitte, der seit vielen Jahren alles zu beobachten scheint. Der Ort wirkt beinahe surreal und obwohl keine Personen abgebildet sind, so lebendig und fruchtbar. Man möchte eintauchen und barfuß auf diesem Fleck Erde laufen.

Die Aufnahme ist Teil der Serie „Female Beekeepers in Ethiopia“ und ist in Supé, einem kleinen Ort im Südwesten von Äthiopien, entstanden. Der Honig und die Praxis seines Gewinns spielen seit über zwei Jahrhunderten eine wichtige Rolle in der äthiopischen Kultur. Und auch die Farben in der Aufnahme erinnern an die Farbe von Honig.

Ein schönes Bild kann vieles sein. Man bleibt dann hängen, wenn es etwas in einem auslöst. Es wurden Erinnerungen wach an den Ort meiner Kindheit, ein Paradies, das auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um mich wieder in den Arm zu nehmen, mit all seinen Kräften und dem Gefühl, Zuhause zu sein.

Foto: Hussain Almosawi. Ausgewählt von Charlotte Hölter.

Die Sitze sind heiß, die Luft so schwer und dick, dass sie es nicht in alle Flügel der Lunge zu  schaffen vermeint. Erst wenn man losfährt, die Fenster bis zum untersten Punkt mit beiden Händen runtergekurbelt, prallt kühle Luft gegen die Gesichter und strafft die Falten über der Stirn für einen Augenblick wie nach einer Botoxkur. 

Desto schneller das Auto wird, desto lauter wird auch der Wind, der wie Wasser durch den Wagen fließt und dessen Druck an dumpfe Bässe erinnert. Irgendwann erscheint das Meer am Horizont, nachdem das Auto über eine große Lücke in der Straße stolpert und dabei alle Insassen noch einmal an ihren Knien riechen lässt.

Der Untergrund ändert sich, das Auto tunkt mit seiner Nase in den Sand und schleicht fortan unter der Schwere seiner Teile durch den Sand. Türen schlagen auf, Menschen werfen auf dem Weg zum Wasser ihre Kleidung durch die Luft und schreien schrill auf, als das kalte Wasser auf ihre Haut prallt. 

Auf dem Beifahrersitz bleibt jemand sitzen. Er hat seinen Vogel dabei und hält ihn aus dem Fenster mit Aussicht auf das kühle Nass. Die beiden schauen einfach raus auf das Meer, während das Auto wieder beginnt sich mit warmer Luft zu füllen.

Für mich spielt sich die Geschichte genau so ab, auch wenn ich die Details gar nicht kenne und weder den Fotografen noch den Mann mit seinem Vogel je getroffen habe. Dabei wird dieses Foto bei jedem/jeder andere Geschichten und Erinnerungen hervorrufen und an die verschiedensten Orte zurückbringen können. Es ist ein Bild voller Liebe, Freundschaft, Wärme und Sehnsucht, das mir ein Gefühl von Heimat schenkt. 

Das Foto entstand 2020 in Malkiya, Bahrain während des ersten Lockdowns. Hussain Almosawi fotografierte den jungen Mann, der mit seinem Vogel „Aboud“ an den Strand fuhr, um bei ihm zu sitzen, während seine Freunde im Meer schwimmen waren. 

Foto: Nikita Teryoshin aus der Serie Backyard Diaries. Ausgewählt von Jens Schittenhelm.

Wir befinden uns in St. Petersburg. Vermutlich in irgendeinem Hinterhof dieser Stadt. Alles wirkt etwas „trashy“ – der Putz bröckelt von der einst gelben Hauswand und legt den blanken Stein frei, der asphaltierte Boden ist mit einer moosigen grünen Schicht überzogen, die rosa Farbe des kleinen Häuschen hat auch schon bessere Tage gesehen. Doch dieses kleine, kniehohe Häuschen, aus ein paar Brettern zusammen gezimmert, in dem gerade eine dreifarbige Katze Zuflucht sucht, strahlt etwas positives aus.

Mit schwarzen Pinselstrichen steht in großen Buchstaben „CAT´S HOSTEL“ unter dem Giebel. Piktogramme weisen auf Essen und Unterschlupf bei Regen hin. Sogar WiFi soll es für die vierbeinigen Stadtbewohner geben. 

Nikita Teryoshin führt uns mit seinem Bild direkt in die Herzen einiger St. Petersburger*innen, die mit Liebe und Fürsorge für ihre „felligen“ Nachbarn aus den Hinterhöfen da sind. Manchmal ist es es nur eine mit Futter gefüllte und auf dem Kopf gestellte Plastikflasche, manchmal nur eine Schale unter einem Regenrohr um das Wasser zu sammeln oder eine ausgediente Box aus Styropor für einen trockenen und etwas wärmeren Schlafplatz. 

Mit seinem klaren und fokussierten Blitz, den hochgepeitschten, fast schon surrealen Farben beleuchtet Nikita die Welt abseits der Straßen und die Bewohner der Backyards. Es ist einfach schön zu sehen, dass in einer Welt die immer egoistischer wird, es dennoch Spuren von Nächstenliebe gibt. Auch Straßenkatzen in St. Petersburg gehören für mich (und Nikita) dazu.