Nahaufnahme: Enzo Leclercq

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Bildredakteur*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen.
Tilman Vogler aus der Bildredaktionsklasse 2021/22 bat den Fotografen und OKS-Studenten Enzo Leclercq, uns einen Einblick in die Entstehung seines Fotos zu geben.

Aus der Serie „Auf der Flucht“, Foto: Enzo Leclercq

Das Bild ist Teil meiner Serie „Auf der Flucht“, die zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 in Bosnien und Herzegowina entstanden ist. Hierfür habe ich mich hauptsächlich in den Städten Velika Kladuša und Bihàc in Bosnien aufgehalten, die sich in der Nähe der EU-Außengrenze befinden. Zusammen mit Freunden habe ich dort Menschen auf der Flucht Hilfe geleistet.

Die Konditionen, in denen Geflüchtete leben, sind oftmals katastrophal, besonders im Winter bei Minusgraden. Manche Menschen wohnen im Wald unter Plastikplanen oder in verlassenen Häusern. Die meisten von ihnen begeben sich irgendwann aufs „Game“ – so nennen sie den Versuch über die Grenze nach Europa zu kommen.

Dieses Bild ist am 23.12.2020 entstanden. Wir hatten am frühen Morgen die Information bekommen, dass das Lipa Camp geschlossen werden sollte, weil die Internationale Organisation für Migration (IOM) angekündigt hatte, sich aufgrund der schwierigen politischen Umstände von der Arbeit dort zurückzuziehen.

Das Lipa Camp befindet sich mitten in den Bergen auf 800 m Höhe und etwa 30 km von der Stadt Bihàc entfernt. Im Auto auf dem Weg zum Camp haben wir erfahren, dass es dort einen Brand gibt. Nach knapp 30 Minuten war fast das komplette Camp zerstört. Offenbar schafften es alle Geflüchteten vom Gelände und niemand wurde verletzt, bevor ein Zelt nach dem anderen abbrannte. (Ein Zelt hat Schlafkapazitäten für 300–400 Personen. Nun waren ungefähr 1500 Personen obdachlos.)

Ich habe mich danach mit vielen Menschen unterhalten – alle haben mir versichert, dass sie keine Verantwortung für den Brand haben: „We are not criminals, we are human beings!“, „Why should we burn our house?“ – Diese Sätze hab ich an diesem Tag sehr oft gehört. Später am Tag lies ich in vielen internationalen Medien: „Aus Frust setzen Geflüchtete Lipa Camp in Brand“. Ich war fassungslos, denn es war (und ist bis heute) nicht klar, wie der Brand entstand.

Nachdem die Menschen mehrere Stunden auf einer Wiese neben dem Camp vergeblich gewartet hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung Bihàc. In diesem Moment ist das Foto entstanden. Alles, was sie besaßen, trugen sie in Tüten oder Rucksäcken. Manche von ihnen hatten nur eine Decke oder nichts, außer der Kleidung, die sie anhatten. Die Menschen wurden ungefähr 10 km später von der Polizei auf einer großen Wiese gestoppt. Eine Spezialeinheit der Polizei hat sie später wieder in die Berge gedrängt.

Enzo Leclercq ist 1990 in Amiens (Frankreich) geboren und lebt seit 10 Jahren in Berlin. Er studierte Modedesign in Lille (Frankreich) und Kommunikationsdesign an der FH Potsdam. Schon während des ersten Studiums entwickelte er eine Leidenschaft für die Fotografie. 2019 begann er die Ausbildung zum Fotografen an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. Er interessiert sich für Dokumentar- und Reportagefotografie. Sein Ziel ist es, mehr in Krisengebieten tätig zu sein. Er möchte verschiedene Realitäten zeigen und Menschen eine Stimme geben.