Nahaufnahme: Henriette Seibert

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Bildredakteur*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder oder Fotostrecken, die ihnen besonders am Herzen liegen. Marina Hoppmann aus der Bildredaktionsklasse 2021/22 bat die Fotografin und OKS-Studentin Henriette Seibert darum, uns einen Einblick in die Entstehung ihrer Bilderstrecke zu geben:

Aus der Serie: „Hinterhaus, rechter Aufgang, 2.Stock.“

Ein Lieferant irrt irgendwo in meinem Hinterhof herum, sucht nochmal in seinem Handy nach der Wegbeschreibung und hastet dann die Treppen zu mir hoch in den 2. Stock. Nach einem kurzen Hallo, ohne mir wirklich in die Augen zu schauen, macht er sich direkt daran das Essen auszupacken, weil er schnell wieder zum nächsten Job eilen muss. 

Im April 2021 habe ich mir die Hasselblad der Schule geliehen und 2 Wochen am Stück jeden Tag Essen bestellt, um die Lieferant*innen verschiedener Anbieter in meinem Hausflur zu porträtieren. So entstand ein serielles Porträt, ein Querschnitt durch die Vielfalt der Berliner Fahrradkuriere. Der immer gleiche Türrahmen meiner Eingangstür dient einerseits als gestalterisches Mittel, um die Porträtierten einzurahmen, und andererseits symbolisiert er die Distanz, die zwischen beiden Parteien durch die berührungslose Zustellung entsteht.

Die Begegnungen mit den Liefernden bei der Übergabe sind ephemer und scheinbar austauschbar. Aber in dem Moment des Innehaltens für das Porträt erhascht man einen kurzen Einblick in ihre Persönlichkeit und in ihre Individualität.

Nachdem im vergangenen Jahr pandemiebedingt die Restaurants geschlossen waren, wurde immer mehr online bestellt. Früher hatte man den Liefernden weniger Beachtung geschenkt, jetzt sind sie wichtig, man ist ihnen dankbar, gibt mehr Trinkgeld, denkt nach über sie – was sind das für Menschen, ein indischer Student, eine junge Tänzerin, ein verträumter Hippie… Ihr Auftritt hatte etwas Spaciges, so komplett vermummt in ihren Uniformen, mit den riesigen Rucksäcken und ihren Masken. Und man wird sich bewusst: das sind Menschen, mit ihren Sorgen – bestimmt haben sie Sorgen? Wie lange hasten sie schon von Tür zu Tür? Über wie viele rote Ampeln mussten sie schon mit Karacho fahren? Haben sie Träume? Werden diese in Erfüllung gehen? Alle ähnlich und doch jeder anders. 

Als ich sie ansprach und ein Foto von ihnen machen wollte, war das für die meisten irritierend, aber sie waren doch fast alle bereit mitzumachen, die Routine zu durchbrechen. Vielleicht fühlten sie, dass ich sie nicht nur als Namenlose im Auftrag eines Konzerns sah, sondern als Personen. Zum Schluss bedankte ich mich und schloss die Tür. 

Ich danke Marina und der Bildredaktion, für das Interesse an meinem Projekt!

Henriette Seibert wurde 1991 in Bonn geboren und wuchs in Berlin auf. Nach dem abgeschlossenen Masterstudium der Kulturwissenschaften in Berlin und Rom und mehreren Jahren Berufserfahrung folgte das Studium der Fotografie an der Ostkreuzschule bei Lia Darjes. In ihrer Fotografie geht es ihr darum, skurrile Momente und surreale Szenen im Alltag von Menschen verschiedener Kulturen einzufangen. Ansonsten isst sie gerne Pizza, gerne auch geliefert.