Nahaufnahme: Nancy Jesse

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Bildredakteur*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen.
Sabrina Böff aus der Bildredaktionsklasse 2021/22 bat die Fotografin und OKS-
Fachklassenstudentin Nancy Jesse darum, uns einen Einblick in die Entstehung ihres
Fotos zu geben:

Aus der Serie „After Work“, Foto: Nancy Jesse

Dieses Bild stammt aus meiner Serie „After Work“, die im Sommer 2020 entstanden ist.

Für diese Serie portraitierte ich Frauen, die in einem Haus leben, welches ausschließlich Wohnungen an Personen im Ruhestand vergibt. Mit dieser Arbeit möchte ich ein positiveren Blick auf das Thema
Alter(n) und Rente werfen.

Ich habe die Rentnerinnen in ihren Wohnungen portraitiert und recht bald auch das Haus selbst.
Wochenlang ging ich dort ein und aus. Fast immer traf ich eine der Frauen, die auf dem Weg zu ihren
verschiedenen Aktivitäten an mir vorbei eilten. Für einen kurzen Schwatz war aber immer genügend Zeit.

Die Anlage, die einer Wohnungsbaugenossenschaft gehört, besteht aus drei Häusern mit Ein- bis Zweizimmerwohnungen für Rentner*innen. Verbunden sind die Häuser durch überdachte Durchgänge, in
denen Bänke stehen und eine dichte Bepflanzung den Blick in die einzelnen Wohnungen schützt. Es ist eine symbolische Verbindung aber auch eine reale. In den Gängen laufen sich die Bewohner*innen über den Weg, die aus den verschiedenen Häusern kommen. Jedes Haus hat seinen eigenen Charakter, wie die Bewohner*innen selbst. Die Bänke laden zum verweilen ein, zu Gesprächen und Begegnungen. 

In der Mittagshitze des Sommers wird dieses sonst so lebendige, geschwätzige Haus ganz still. Auf den Terrassen sind die Markisen heruntergelassen, es klappert noch ein wenig das Geschirr beim Abwaschen, ein Geruch von Mittagessen liegt in der Luft, der an Kindheit erinnert. Die Bänke sind leer, denn man macht es sich lieber drinnen bequem. Aber bald wird sicherlich jemand vom Nachmittagsspaziergang mit dem Hund hier kurz verweilen, einen Plausch mit den Nachbar*innen halten oder einfach in der Zeitung blättern. 

Nancy Jesse lebt in Berlin und studiert in der Fachklasse der Ostkreuzschule. Geboren in Ostdeutschland wuchs sie in einer Gesellschaft auf, die sich nach der Wende neu (er)finden musste. Dieses »Suchen« hat sie bis heute geprägt und in der Fotografie ein Ausdrucksmittel und gleichzeitig ein Werkzeug gefunden, darüber Geschichten zu erzählen. In ihren Arbeiten geht es oft um Orte und ihre Menschen, Strukturwandel, Identitätsverlust und -suche. Derzeit ist sie meist in einem kleinen Ort südlich der Hauptstadt anzutreffen. Dort arbeitet sie an einer Serie über eine ostdeutsche Kleinstadt und ihre Bewohner*innen.