OKS-lab fragt… Linn Schröder

Ein Auszug von Linn Schröders Serie Ich denke auch Familienbilder mit dem Titel Nicht schon wieder Oma, Mama. war bis vor kurzem in der Ausstellung KONTINENT – Auf der Suche nach Europa in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin zu sehen. In der aktuellen Ausstellung Family Affairs im Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg, ist die Werkgruppe Ich denke auch Familienbilder, in einem erstmals großen Umfang, einschließlich der Arbeit Selbstportrait mit Zwillingen und einer Brust von Mai bis Juli 2021 zu sehen. Signe Heldt aus der Bildredaktionsklasse 2020/21 sprach mit der Fotografin über ihr im Mai bei Hartmann Books erscheinendes Buch Ich denke auch Familienbilder. Es ist Linn Schröders erstes Buch.

Signe Heldt (SH): Hallo liebe Linn, magst Du zu Beginn erzählen, mit welchen Themen Du Dich fotografisch in Deinem Buch Ich denke auch Familienbilder auseinandergesetzt hast? 

Linn Schröder (LS): Wie der Titel des Buches schon andeutet, geht es um Familienbilder.

Das Bild Selbstporträt mit Zwillingen und einer Brust, das 2012 entstanden ist, war sozusagen der unbewusste Anfang dieses Langzeitprojektes.

Früher bin ich sehr viel gereist und habe nach Bildern gesucht, um meine eigenen Geschichten zu erzählen. Durch die Geburt meiner Kinder war klar, dass das so nicht nicht mehr geht. Also musste ich einen anderen Weg finden, um zu Bildern zu kommen. 

Anfang 2014 habe ich eine Porträtserie von Müttern und Töchtern fotografiert und die Familienbilder sind anfänglich eher nebenbei entstanden. Doch beim Editieren der Bilder stellte ich fest, dass diese gesehenen Situationen sehr spannend sind und habe dementsprechend meinen Fokus auf diese Bilder gesetzt.

Es sind zum Teil Bilder von Situationen, die ich gesehen habe und nachinszenierte. Ich habe Freunde und Bekannte fotografiert. Und habe immer mehr Fotos von meinen eigenen Kindern gemacht, da das am naheliegendsten war.

Anfänglich dachte ich, dass ich das Thema Familienbilder viel breiter zeigen muss und habe Familien, die mich interessierten, auf der Straße angesprochen. Ich habe jedoch schnell festgestellt, dass der Fokus auf meine Kinder völlig ausreichend ist. Und so sind in den letzten Jahren eigentlich hauptsächlich Bilder von den Zwillingen und Freunden entstanden.

Selbstportrait mit Zwillingen und einer Brust, 2012

SH: In der KONTINENT – Auf der Suche nach Europa Gemeinschaftsausstellung in der Akademie der Künste in Berlin zeigtest Du die Serie Nicht schon wieder Oma, Mama. Sind die Bilder dieser Serie ebenfalls im Buch zu sehen?

LS: Ja, auch Bilder dieser Serie sind im Buch zu finden. Dort geht es um die Fluchtgeschichte meiner Schwiegermutter, die als 12-Jährige im Januar 1945 bei -20 Grad mit ihrem Bruder, ihren zwei Schwestern und ihrer Mutter aus Oberschlesien geflohen ist. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie ihre Fluchtgeschichte auf. Gemeinsam mit meinen Kindern bin ich dann an die Orte gefahren, die sie in ihren letzten Aufzeichnungen beschrieb. Die dort entstanden Fotos sind etwas konkreter als die anderen Bilder im Buch. Mir war es bei dieser Serie auch wichtig, das Erlebte eines Familienmitglieds innerhalb der Familie weiterzutragen und zu erzählen. 

Aber sonst geht es bei den Bildern im Buch eigentlich immer darum in den Momenten, die ich suche, starke Erzählungen zu finden, die für sich stehen.

SH: Wie ist das Buch formal aufgebaut? Sind es ausschließlich Porträtaufnahmen? 

LS: Größtenteils sind es Schwarz-Weiß-Porträts, vier Farbbilder und sechs Landschaftsaufnahmen. In dem Buch gibt es auch Doppelungen. Es gibt ein Bild, das ich in Farbe und in Schwarz-Weiß fotografiert habe. An dieser Stelle wird die Dynamik des Buches sehr filmisch. Dinge wiederholen sich. Ein Bild gibt es zum Beispiel zweimal. Das hab ich im Abstand von zwei Jahren noch einmal an exakt der gleichen Stelle mit den gleichen Personen und der gleichen Haltung aufgenommen. So wird deutlich, dass es Inszenierungen sind. Am Hintergrund des Bildes erkennt man die vergangene Zeit. Es sind ja jetzt schon fast sieben Jahre, in denen ich die Familienbilder fotografiere. Dementsprechend gibt es auch Sprünge im Alter und Wiederholungen in den Bildern.

SH: Ist das Buch in Kapitel aufgeteilt? 

LS: Es gibt Zwischenseiten, die mit einem Farbverlauf gedruckt sind. Diese wirken wie eine Pause zwischen den einzelnen Sequenzen. Es fängt an mit sehr dunklen, kontrastreichen Bildern, die alle eine ähnliche Lichtstimmung haben und geht dann über in eine Sequenz, in der die Zwillinge immer wiederkehren. Der Tod wird ebenfalls thematisiert. Es gibt quasi unsichtbare Kapitel.

SH: Deine Töchter werden seit klein auf von Dir fotografiert – Wie ist das eigentlich für sie? 

LS: Wenn ich etwas fotografiert habe, wie zum Beispiel das Bild, auf dem die Kinder in einem Netz stehen und nach oben schauen, da habe ich einmal ausgelöst und prompt eine Antwort bekommen: „So, jetzt ist fertig, Mama!“ – „Nee, wir machen jetzt noch weiter!“ – „Ok Mama, aber dann kriegen wir vier Gummibärchen.“ 

Also die beiden schlagen schon immer was raus. Aber wenn mal jemand anderes eine Kamera zückt, sind sie ganz schnell weg und verstecken sich.

Neulich haben die Zwillinge die Bilder und das Buch zum ersten Mal gesehen. Als ich ihr eines der Bilder zeigte, sagte meine Tochter Charlie, dass sie es wirklich schön findet. Auf dem Bild ist sie noch ganz klein und in meinem Auto zu sehen. Meine Zwillinge haben aber auch einige Bilder aus dem Buch rauseditiert.

Mutter war verzweifelt, aus Nicht schon wieder Oma, Mama., Roikier, 2019

SH: Ah, das ist ja interessant. Dann durften die beiden mitentscheiden, welche Bilder im Buch zu sehen sind? 

LS: Ja, auf jeden Fall. Bei manchen Bildern haben sie gesagt, dass sie nicht möchten, dass diese Bilder im Buch zu sehen sind. Es ist mir wichtig, sie mitentscheiden zu lassen. Natürlich fiel mir das bei manchen Bildern auch sehr schwer.

SH: Das heißt, Deine Töchter haben schon ein Interesse für die Fotografie? 

LS: Die beiden haben schon immer gerne fotografiert. Im Sommer 2019 waren wir mit einer befreundeten Fotografin gemeinsam im Urlaub. Diese hatte analoge Kameras für die Zwillinge dabei. Davon waren sie total begeistert. Die beiden fotografieren schon recht viel und haben großen Spaß dabei. Manchmal kommen sie zu mir und zeigen mir Bilder, die ihnen besonders gut gefallen. „Schau mal Mama, hier ist das Licht so schön!“.

SH: An Deinen Bildern fasziniert mich sehr, dass sie so zeitlos wirken. Sie hätten auch schon vor vierzig Jahren aufgenommen sein können. Das liegt wohl auch daran, dass die Kinder auf den Bildern nicht niedlich, sondern eher ernst und abgründig wirken.

LS: Ich habe immer darauf geachtet, dass es nicht um Spiel-Momente geht und dass ich auf die Kinder schaue, wie auch auf Erwachsene. Natürlich gibt es auch ein paar Bilder, die in diese Richtung gehen. In spielenden Situationen zeige ich die Kinder allerdings nicht. Das Zeitlose fand ich schon immer sehr interessant. Das kommt zum einen natürlich durch das Schwarz-Weiße. Durch die farbigen Bilder wird das Zeitlose wiederum etwas aufgebrochen. Ich habe schon öfter mal von Leuten gehört, dass sie dachten, es seien alte Bilder oder Archivbilder, die ich integriert habe.

Das Zeitlose in meinen Bildern entsteht wohl auch dadurch, dass viele Bilder in der Natur aufgenommen sind. Und wenn mal Bilder im Innenraum entstanden sind, sind es immer Räume, die nicht eindeutig zeitlich definiert sind, weil mich das nie interessiert hat. Ich wollte immer, dass die Fotos allgemeingültig sind. Es ist eine bewusste Entscheidung, im Bild keine Gegenstände zu zeigen, die man mit einem bestimmten Jahr verbinden kann. Das Einzige, was mal auftaucht, ist mein altes Auto, ein VW Scirocco der schon über 30 Jahre alt ist.

O.T.#04, aus Ich denke auch Familienbilder, Roikier, 2014

SH: Zu dem Titel Ich denke auch Familienbilder: Wie ist dieser entstanden und wie ist er zu verstehen? 

LS: Der Name der Serie ist während eines Gespräches entstanden und ich fand diesen halben Satz ziemlich gut, weil er so viel Doppeldeutigkeiten hat, die man alle weiterdenken kann. Ich denke auch Familienbilder heißt ja auch, dass es neben den Familienbildern noch etwas anderes gibt. Eine Parallelität vorhanden ist. Dass man Familienbilder denkt, ist ja eigentlich auch nicht üblich. Man denkt keine Bilder, sondern macht sie. Und ich fand eben, dass es in der Fotografie so viele verschiedene Arten von Haltungen gibt, wie Bilder funktionieren sollen und für welchen Bereich sie gemacht werden. Familienbilder haben eher eine belegende Funktion, wie zum Beispiel ein Gruppenbild. Zur Einschulung, zur Hochzeit und an Geburtstagen werden Bilder gemacht. Meistens geht es darum, zu belegen, dass man zusammengehört. 

Diese Funktion haben meine Bilder aber nicht für mich, sie werden irgendwie autonom in ihrer Erzählung. Sie dienen nicht dazu, bestimmte Ereignisse zu versichern. Die Situationen sind viel unspektakulärer und die Kinder werden auch mehr zu Darstellerinnen. Es geht nicht darum, etwas Reales zu belegen und das ist dann vielleicht auch ähnlich verwirrend wie der Titel. Sie erinnern auf der einen Seite daran, wie sie auch in einem Fotoalbum aussehen könnten, funktionieren dann aber doch anders. Und das Verwirrende an dem Titel ist auch die Parallele zudem wie die Bilder sind.

SH: Wie kam es denn eigentlich zu der Idee, ein Buch aus den Familienbildern zu machen? Es ist ja nun auch Dein erstes Buch.

LS: Ich hatte schon lange die Idee, ein Buch zu veröffentlich. Jedoch hatten die meisten meiner Serien immer nur knapp dreißig Bilder und für ein Buch wünscht man sich ja schon so um die fünfzig Bilder. Und da ich an den Familienbildern schon über einen so langen Zeitraum gearbeitet habe, gab es da genug Spielraum, mich einem Buch überhaupt zu nähern.

SH: Wie lange hat der Prozess des Buches von der Idee bis zur Umsetzung gedauert? 

LS: Angefangen habe ich letztes Jahr im Januar. Da habe ich ziemlich schnell einen Buchdummy für einen Wettbewerb erstellt. Für den MACK First book award. Leider ist daraus nichts geworden. Das war aber der Anlass für den Buchdummy. Dieser ist auch in der Kürze der Zeit an wirklich wenigen Tagen entstanden. Ich glaube sogar in weniger als einer Woche. Der war aber noch nicht bis ins letzte Detail zu Ende gedacht.

An der konkreten kontinuierlichen Umsetzung des Buches habe ich dann wieder im Dezember letzten Jahres angefangen zu arbeiten. Habe dann aber schnell gemerkt, dass es immer komplexer und aufwendiger wird. Das Buch wird Duplex gedruckt mit einem Schwarz- und einem Grauton. So sehen die Bilder schon fast wie einzelne Abzüge aus. Das war mir sehr wichtig.

SH: Hast Du das Editieren der Bilder sowie die Gestaltung des Buches alleine gemacht oder hattest du jemanden an Deiner Seite? 

LS: Mein Kollege Stefan Stefanescu, Professor für Editorialdesign an der HAW Hamburg, hat die Gestaltung des Buches übernommen. Er hat mir viel bei der Reihenfolge und der Dynamik des Buches geholfen. Es hat total viel gebracht, das Sequencing zu zweit zu machen. Zu Beginn dachte ich, dass alles feststehen muss, dass ich ganz genau wissen müsste, wie ich alles haben will. Vor allem bei dem Prozess eine dialogische Gestaltung sowie einen Rhythmus zu finden, da war es wirklich total hilfreich, zu zweit zu arbeiten.

SH: Deine Serie Ich denke auch Familienbilder ist von Anfang Mai bis Juli in der von Ingo Taubhorn kuratierten Gruppenausstellung Family Affairs. Familien in der aktuellen Fotografie in den Deichtorhallen Hamburg zusehen. Es sind mehr als 20 internationale fotografische Positionen ausgestellt, die sowohl die Diversität fotografischer Herangehensweisen als auch die Verschiedenartigkeit familiärer Modelle, Lebensweisen und komplexen Dynamiken sichtbar machen.

LS: Das ist richtig. Alle ausgestellten Positionen sind in den letzten 15 Jahren entstanden. Es gibt ja sehr viele historische Arbeiten, die man sofort in Verbindung mit Familienbildern bringt, wie zum Beispiel The Brown Sisters von Nicolas Nixon oder Immediate Family von Sally Mann. Anfänglich hatte Ingo Taubhorn überlegt, diese historischen Werke mit in die Ausstellung zu integrieren. Jetzt sind es jedoch ausschließlich jüngere Positionen, was ich sehr spannend finde.

Jede*r Fotograf*in hat einen eigenen, extra erschaffenen Ausstellungsraum zur Verfügung. Die ganze Architektur der Deichtorhallen wurde so umgebaut, dass die gesamte Fläche nun verschiedene Räume ergibt. Eigentlich sollten es sogar komplett geschlossene Räume sein, das geht nun aber auf Grund von Corona nicht.

SH: Die Ausstellungsplanung lief also parallel zur Fertigstellung Deines Buches. Hat sich dadurch ein Zusammenhang zwischen der Buchgestaltung und der Wandpräsentation ergeben?

LS: Die Wandpräsentation in den Deichtorhallen bezieht sich schon sehr auf die des Buches. In der Hängung gibt es einen ganz ähnlichen Ablauf der Bildgruppen wie im Buch und es gibt ebenfalls den Farbverlauf der sich auf die Zwischenseiten bezieht. In der Ausstellung zeige ich die gesamte Breite der Serie. Das Selbstportrait mit Zwillingen und einer Brust mit dem sozusagen alles begann, ist ebenfalls in der Ausstellungsinstallation zu sehen.

SH: Vielen Dank für das interessante Gespräch, liebe Linn! Wir wünschen Dir alles Gute, viel Erfolg für das Buch, die Ausstellung und deinen weiteren Weg!

Hier könnt ihr das Buch Ich denke auch Familienbilder erwerben. Gleichzeitig unterstützt ihr mit dem Kauf Linn Schröder die Druckkosten für das hochwertig gestaltete Künstler*innenbuch zu tragen.

Linn Schröder (*1977) lebt und arbeitet in Berlin und Hamburg. Sie ist Mitglied von Ostkreuz Agentur der Fotograf*innen und unterrichtet an der Ostkreuzschule für Fotografie. Seit 2016 ist sie Professorin für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Linn Schröder studierte Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg bei Ute Mahler, Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg bei Jitka Hanzlová und Fotografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich bei André Gelbke.

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