Nahaufnahme: Anna Thiele

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Diesmal haben wir die Fotografin und ehemalige OKS-Meisterschülerin Anna Thiele darum gebeten, uns einen Einblick in die Entstehung ihres Fotos zu geben.

Alles begann mit einer gekeimten Kartoffel, die meine Mutter aus dem Keller holte, um sie mir bei meinem sommerlichen Besuch 2019 zu zeigen und damit ich davon eine Aufnahme mache. Die Kartoffel war überaus bizarr. Der Grillwagen auf der Terrasse, zufällig mit einer Decke behelfsweise abgedeckt, wurde fürs ‚Shooting‘ auserkoren. Wir suchten etwas, worauf wir die Kartoffel fixieren konnten. Aus dieser Suche wurde ein kreatives Vergnügen, die ersten Aufnahmen entstanden. Ab da stand immer eine ‚Komposition‘ an dieser Stelle ─ mal mit einer abgebrochenen Blüte aus dem Garten, ein anderes Mal fand eine weitere Kartoffel mit Babyknollen den Weg in unser heiteres Mini-Studio. Die Schnecke gesellte sich dazu und der Ingwer, der mich an einen kleinen Elefanten denken lässt. Manchmal haben wir den anderen mit einem neuen Arrangement überrascht, mal haben wir sie im Duett kreiert. Dieses ist ein Gemeinschaftswerk ─ und mir besonders nah durch seine Zartheit, das Sich-Anlehnen, mit einer Note von Absurdität.

Denn es gibt eine Vorgeschichte, die erklärt, warum mir dieses Bild so sehr am Herzen liegt und wie es zu diesem Miteinander überhaupt kam: 

Im Frühjahr desselben Jahres war aus einem geplanten Kurzbesuch bei meiner Mutter ein siebenwöchiger Aufenthalt geworden – die echte Grippe hatte uns umgehauen, zum Glück nacheinander. An die Zeit der wechselseitigen Pflege schlossen sich Wochen einer Art Kur-WG an. Beide waren wir klapprig, wir fühlten uns wie nach einem ‚Reset‘. Noch nie hatten wir nur zu zweit so lange Zeit verbracht. Wir hatten keine Pläne, auch gar nicht die Kraft dafür, und so trudelten wir im Haus meiner Mutter durch die Tage – ein bisschen wie spielende Kinder. Je besser es uns ging, umso bunter und lustiger wurde unser Zusammensein. Die Abreise nach sieben Wochen fiel uns beiden dann richtig schwer. Es war eine wunderbare, durch die Krankheit aber auch außerordentlich intensive Zeit des Miteinanders.

Bei meinem sommerlichen Besuch wollten wir dann Urlaub zusammen machen – beide nun gut bei Kräften. Zu unserer Freude und Überraschung stellte sich dieser besondere ‚Swing‘ des Frühjahrs wieder ein. Und dieses offene Wechselspiel im Miteinander – jeder Tag ungeplant, in leichtfüßiger Sommeratmosphäre – hat diese Aufnahme hervorgebracht. 

Letztlich ist aus unserem heiteren Treiben dann eine ganze Fotoserie entstanden, der ich den Titel ‚pas de deux‘ gegeben habe. Die Serie umfasst weitere skulpturale Stillleben dieser Art – mit Kartoffeln –, aber vor allem auch noch Bilder einer fast tänzerischen ‚Begegnung‘ zwischen mir und meiner Mutter. Ich freue mich schon darauf, wenn auch diese Bilder den Weg in die Öffentlichkeit finden.

Die Nähe und die Freude, die wir in diesen Tagen gemeinsam hatten, sind mir kostbar. Die Bilder werden mich immer daran erinnern und diese besondere Stimmung zurückholen. Aber vielleicht erzählen sie auch Dritten ein bisschen davon ─ gerade in dieser Pandemie-Zeit, in der wir uns nach Leichtigkeit und nahem Zusammensein besonders sehnen.

Website: www.annathiele.de
Instagram: @annathiele_photography

Anna Thiele war 2010 bis 2011 Meisterschülerin bei Prof. Arno Fischer an der Ostkreuzschule für Fotografie. Sie arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Urbane Transformation ist ein Schwerpunkt ihrer künstlerischen Fotoprojekte, in denen sie einen besonderen Blick auf die Wechselbeziehungen Raum-Mensch, Mensch-Raum erzeugt. Aus ihrem Langzeitprojekt auf dem Tempelhofer Flugfeld ist 2020 ihr erstes Buch hervorgegangen: „Tempelhof. Metamorphosis“, erschienen im DISTANZ Verlag und ausgezeichnet mit dem Deutschen Fotobuchpreis 20|21 in Silber. In den letzten Jahren arbeitet Anna Thiele vermehrt an freieren, assoziativen Projekten, in denen sie sehr diverse Motive aus dem alltäglichen Umfeld so verdichtet, dass daraus ganz eigene poetische Räume und Erzählungen entstehen.

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