OKS-lab fragt… Thomas Gust

Seit 2017 ist der Verleger, Fotograf, Buchhändler und Fotobuch-Kenner Thomas Gust Gastdozent an der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS). Die Bildredakteurinnen Pia Telebuh und Julia Brigasky haben sich mit ihm über seine Arbeit, das Verlagswesen und natürlich über Fotobücher unterhalten. Die ausführliche Fassung des Interviews könnt ihr in Episode 1 unseres bald erscheinenden Podcasts OKS-Rekorder hören.

Pia Telebuh (PT): Wir sitzen heute zusammen mit Thomas in seinem Buchladen Bildband Berlin in Prenzlauer Berg Hallo Thomas! Unser Thema für heute lautet „Leidenschaft“ und bevor wir einsteigen, Thomas, möchtest du dich vielleicht einfach kurz vorstellen?

Thomas Gust (TG): Ja, schön hier zu sein, bei Bildband Berlin – Leidenschaft ist das richtige Stichwort, wenn es um Fotografie und Fotobücher geht. Ich bin seit 1989 in Berlin. Seitdem fotografiere ich auch. Und deutlich später, im Jahr 2015, habe ich mit Joe Dilworth, dem Londoner Fotografen und auch Musiker, die Fotobuchhandlung Bildband Berlin eröffnet, mit ganz viel Enthusiasmus und auch Naivität. Die Gründung des Fotobuch-Verlags Buchkunst Berlin folgte dann im Jahr 2018, zusammen mit meiner Partnerin, der Fotografin und Designerin Ana Druga, unabhängig von der Buchhandlung, aber natürlich befruchtet sich das gegenseitig.

Der Fotobuchladen Bildband Berlin in Prenzlauer Berg

PT: Du bist also selbst Fotograf, unterrichtest seit 2017 aber auch an der OKS als Gastdozent. Wie kam es denn dazu?

TG: Das hat sich über die Buchhandlung ergeben. Wir hatten mit Werner Mahler eine Ausstellung – „Fans“ – und in den Begegnungen vorher, schon ab 2016/17, haben wir sehr viel über Bücher geredet und hatten mal ein sehr langes Gespräch über piktoralistische Fotobücher und irgendwann hat Werner gesagt, erzähl das doch mal den Studenten*innen, wir laden Dich einfach mal ein. Dann habe ich zugesagt, unter der Bedingung, dass wir nicht nur ein paar Bücher präsentieren, sondern eine richtige Liste zusammenstellen, von Pencil of Nature, Talbot, dem ersten Fotobuch und Anna Atkins, bis hin zu The Holy Bible von Broomberg/Chanarin, um wirklich den Bogen zu verstehen, was Doppelseiten, was Cover leisten können, wie sich das Design entwickelt hat und was Fotobücher eigentlich geworden sind – aus dem Beginn, als Legitimation einer neuen Kunstform hin zu den erzählerischen oder taktilen Tendenzen oder politischen Dimensionen, die ein Fotobuch heute haben kann. Zusätzlich gibt es die ganzen Background-Informationen über die Biografien der Fotografen und auch über die politische Welt, in der sie gelebt haben. Das ist mir eigentlich das wichtigste neben der Fotobuchgeschichte: dass man versteht, dass die Risikobereitschaft von Fotografen*innen im 20. Jahrhundert extrem hoch war. Wenn man sich so eine Biografie anschaut, von Leuten, die heimlich über Grenzen gehen, die sich verstecken und trotzdem fotografieren müssen, um sozusagen eine Form von Wahrheit zu ermöglichen. Da stellt sich am Ende der Vorlesung die Frage: Wie groß ist die eigene Risikobereitschaft der Fotografen für ihre Bilder?

Julia Brigasky (JB): Wie siehst Du die Zukunft des Fotobuchs? Denkst Du, es hat eine Zukunft?

TG: Ja, definitiv. Das Fotobuch hat in den 90er Jahren einen richtigen Boom erlebt. Hinzu kam natürlich die Sekundärliteratur Parr/Badger The Photobook: A History, The Open Book, oder die Fotobuch-Bücher von Manfred Heiting im Steidl Verlag. Es gibt mittlerweile in fast jedem Land eine Fotobuchgeschichte – von Belgien, bis Südamerika usw…

Ich finde, was parallel dazu passiert ist, ist, dass zwei Märkte entstanden sind. Es gibt den großen Buchmarkt, aber wenn ich bei Dussmann oder Thalia in die Buchhandlung gehe, werde ich auf keinen Fall Independent-Fotobücher finden, wahrscheinlich noch nicht mal Stephen Shore und auf gar keinen Fall Hassan Hajjaj, Erwin Wurm oder japanische Fotobücher. Aber es gibt eben auch einen sehr starken Independent-Markt, der ist sehr unübersichtlich, finde ich – und trotzdem setzen sich jeden Monat neue wahnsinnig gute Bücher durch. Interessant ist, dass der Independent-Buchmarkt dem großen Buchmarkt mit den klassischen Distributionsmodellen und Verlagsvertretern eine komplett eigene Visualisierung der Bücher entgegengesetzt hat, auf den Plattformen wie Facebook oder Instagram und via Mails. Kataloge drucken oder gar Verlagsvertreter lassen sich bei den kleineren Auflagen auch gar nicht finanzieren. Also passiert fast alles nur noch digital, die erste Begegnung mit einem Buch. Das haptische Erlebnis, was in meinen Augen die Dimension eines Fotobuchs ausmacht, die fällt immer mehr weg und ist eigentlich nur noch auf den Messen und Events wie z.B. auf den Recontres d’Arles erfahrbar. Das ist, denke ich, das Hauptproblem, was sich gerade stellt: Die Vermittlung eines analogen Mediums in dieser immer digitaler ausgerichteten Welt, in der wir leben.

JB: Das stimmt. Wenn man im Laden steht und die Bücher aufblättert und dann noch jemanden hat, der einem Kontext bieten kann und etwas dazu erzählt, das ist natürlich was ganz anderes. Vielleicht können wir da ganz gut anschließen, da kommt die Leidenschaft ja durchaus schon durch – wie seid ihr auf die Idee gekommen, diesen Verlag zu gründen? Muss man da besonders wahnsinnig oder leidensfähig sein, um das zu machen?

TG: Ich denke schon. Also es ist wie mit der Buchhandlung Bildband Berlin. Wenn man sich vorher hinsetzt und überlegt, was man damit finanziell erreichen kann, dann kann man es vergessen. Die Gewinne (eines Fotobuchverlages) sind ähnlich wie im Theater und in der bildenden Kunst: Erlebnisse, der Austausch mit anderen Menschen, das fertige Produkt in den Händen zu haben, zu sehen, dass es in der Welt ist, dass der/die Fotograf*in wahrgenommen wird.

Thomas Hoepker beim Michael Stipe Book Launch, 2019

Um die Geschichte des Verlags kurz zu erzählen, weil die eigentlich ganz schön ist: 2016 hat ein Freund, der ukrainische Fotojournalist Artur Bondar, in Moskau ein Archiv entdeckt, mit ungefähr 500 Negativen eines russischen Frontfotografen, der im April und Mai 1945 in Berlin und im Kampf um Berlin und den ersten Friedenstagen Bilder aufgenommen hat, die er aber nie veröffentlichte, weil sie ganz unpropagandistisch waren und verletzte russische Soldaten sowie die Zivilbevölkerung und die Stadt in Trümmern zeigten, was alles auch von russischer Seite nicht gestattet war. Irgendwann hat der ukrainische Fotograf Artur Bondar uns diese Bilder geschickt und ich habe sie mir, gerade mit der S-Bahn durch die im Licht glänzende Stadt fahrend, angeschaut – diese Prints von Ruinen, von dieser totalen Zerstörung vor mir – das hat mich sehr bewegt und ich habe sofort gedacht: Wir müssen diese Bilder hier zeigen, in Berlin, im Mai. Der Tagesspiegel hat dann mehrere davon abgedruckt und es kamen in drei Wochen mehr als 600 Leute. Das war wirklich irre. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade Ana Druga kennengelernt, die ja mit Michael Wolf Tokio Compression für Hannes Wanderers Peperoni Books designt hat und deren Design ich ganz toll fand. Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir das Buch machen würde und dann haben wir den Verlag gegründet, weil wir uns sicher waren, dass dieses Buch so wichtig ist, für unsere eigene Geschichte und dass diese ganze Sache größer ist als wir selber, dass wir das riskieren müssen. Wir haben dann in 12 Monaten 2000 Stück verkauft und jetzt 3000 nachgedruckt, die zu Beginn der Corona-Pandemie erschienen sind, sich aber dennoch weiterhin gut verkaufen.

PT: Was ist denn das Programm eures Verlags Buchkunst Berlin?

TG: Wir sind ja mit dem gerade erwähnten Archiv eingestiegen, Berlin Mai 1945, und haben jetzt gerade wieder ein Buch veröffentlicht, Dieter Keller – Das Auge des Krieges, Ukraine 1941/42, aber eigentlich war es nie die Idee, Bücher mit historischen Archiven zu zeigen, die Geschichte transportieren und dokumentieren, das war ursprünglich nie der Plan. Parallel dazu machen wir Bücher mit Michael Wolf in rauschhaften Farben von Sonnenaufgängen und der verloren gegangenen Wäsche in Hongkong und planen ein Buch mit Feng Li, einem chinesischen Street-Fotografen, was noch in diesem Jahr erscheinen soll. Es gibt Künstler, die ich so überzeugend finde, dass ich bereit bin, die nächsten anderthalb Jahre mit diesen Bildern zu verbringen. Weil das meine komplette Lebenszeit außerhalb der Buchhandlung betrifft, bin ich allerdings nur bereit, diese Energie in Bücher zu investieren, wo die Leidenschaft so groß ist, dass ich meine ganze Zeit damit verbringen will. Ein gutes Beispiel wäre der tschechische Fotograf Jindřich Štreit, mit dem wir im Herbst ein Buch veröffentlichen werden. Es war ein riesiger Traum, mal ein Buch mit ihm zu machen. Wir haben sein Archiv aufgearbeitet, wofür ich Nächte in Prager Hotelzimmern verbrachte, mit dem Laptop und einem Scanner und dort die Originalnegative scannte – etwa 1500 Stück. Das ist so ein ganz kleiner Ausschnitt von vielen Dingen, die man tut, um ein Fotobuch zu machen. Man muss es lieben, nachts in Prag Negative zu scannen. Ich finde das gut, das hat eine Dimension von Freiheit.

JB: Kannst Du uns noch ein bisschen etwas zur Auswahl hier bei Bildband Berlin erzählen? Wie wählt ihr aus? Vom Draufgucken würde ich sagen, das ist eine Herzblutsache, aber vielleicht auch eine Frage der Verkaufszahlen? …Mh, du zögerst… ?

TG: Ja, ich denke, wir unterliegen schon fast ähnlichen Richtlinien. Wenn z.B. das neue Josef Koudelka-Buch Ruins erscheint, das bestelle ich natürlich – ich bin aber auch ein großer Fan von Koudelka. Ich denke, das Sortiment bei Bildband Berlin setzt sich zusammen aus Fotobuchklassikern, die wieder erscheinen, bis hin zu den alten Bauhausbüchern und Fotobüchern, die gerade neu veröffentlicht werden, nach 75 Jahren, wo das Urheberrecht frei wird. Parallel dazu die Bücher von internationalen, unabhängigen Verlagen und natürlich Bücher von deutschen Verlagen, aber eigentlich weltweit. Also die Auswahl, die wir hier treffen, ist wirklich so, dass wir hier Bücher sehen, die wir wirklich toll finden, gemixt mit Titeln, wo wir sagen, das wird sehr viele Leute interessieren. Es ist unsere eigene Vision, was wir hier machen, aber natürlich reagieren wir auf Neuerscheinungen. Wir sind Steidl Bookshop, arbeiten aber zum Beispiel auch eng mit Mack books aus London zusammen. Und wir pflegen wirklich persönlichen Kontakt zu sehr vielen der Independent-Verlage. Insofern versuchen wir die Waage zu halten zwischen einer gewissen Naivität und der wirklichen Spezialisierung, weil wir ja hier entscheiden, welche Bücher wir den Leuten zeigen. Und ich finde eigentlich, dass wir die Leute erreichen müssen, die nicht schon spezialisiert sind, die nicht schon Sammler sind und ihre First editions zusammensuchen. Dann hat das Buch eine Chance. Alles andere ist, glaube ich, wirklich selbstreferenziell. Mir fehlt die Öffnung raus zu den Menschen, weil ich glaube, dass die Leute daran interessiert sind, aus der Reizüberflutung rauszukommen und dann fängt das an, was wichtig ist: Welche Art von Bilder bestimmen unser Leben?

JB: Das ist doch ein schönes Schlusswort… Vielen Dank, Thomas, für dieses interessante Gespräch!

Thomas Gust – 1972 geboren in Bautzen – ist Fotograf und Dozent für Fotografie und Fotogeschichte. Er hat im Jahr 2015 zusammen mit Joe Dilworth den Fotobuchladen Bildband Berlin gegründet und gibt Seminare zum Thema Fotografie und Fotobücher, unter anderem an der University of Fine Art, an der FH Dortmund sowie der Ostkreuzschule für Fotografie. Seit 2018 führt er zusammen mit der Designerin Ana Druga den Verlag Buchkunst Berlin.

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