Nahaufnahme: Rabea Edel

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Diesmal bat Gillian Henn aus der aktuellen Bildredaktionsklasse die Fotografin und OKS-Studentin Rabea Edel darum, uns einen Einblick in die Entstehung ihres Fotos zu geben.

Zwischen Holz und Wand hat sich ein Wespenschwarm ein Nest gebaut. Das Summen nistet sich in meinem Kopf ein. Es ist Ende September, es ist immer noch warm, über 30 Grad, später wird es ein Gewitter geben, die ziehen hier zwischen Fluss und Weinbergen oft am Abend auf, das Wetterleuchten über den Berghängen ist dann im ganzen Tal zu sehen. Die Holzverkleidung der Zimmer unter dem Dach speichert die Wärme, trotzdem friere ich. Es ist der letzte Film in der Kamera, das fünfzehnte Bild sogar, das Stativ steht in der offenen Tür, damit der Winkel stimmt, und nichts davon später auf dem Foto zu erkennen ist. Was man noch alles nicht sieht: den leeren Bauch, die Narbe auf der Bauchdecke, die einmal durch fünf Schichten geht, die allesumfassende Müdigkeit. In einem der Nachbargärten geht der Rasensprenger an. Ich habe das Badezimmerfenster geöffnet, um Luft zu bekommen. Das Kind schläft mit Erde an den nackten Füßen unter einem dünnen Bettbezug im Zimmer nebenan.  In manchen Zimmern dieses Hauses, in dem wir seit einer Woche sind, gibt es Gespenster. In den Farben der Tapeten, zwischen den Maserungen des Holzes, in den Schränken, im Stoff der Kleider, Erinnerungen, die sich zurückgezogen haben und die in den Abendstunden oder in der Mittagshitze wieder Gestalt annehmen, die das Kind manchmal zu sehen meint und mir beschreibt. Magisches Denken. 
Die Frau im Spiegel schaut zurück. Ich kenne sie nicht. Sie ist Teil einer Geschichte, die ich mit Hilfe meines Kindes zu erzählen begonnen habe, aber sie ist nicht mehr die, die ich zu kennen glaube. Eine Verschiebung in der Wahrnehmung für wenige Sekunden nur, bis der Blick sich klärt, die Konturen sich wieder schärfen. Auf welcher Seite des Spiegels befinde ich mich, hinter dem Spiegel oder vor ihm?

In den letzten Monaten habe ich oft an diesem Ort fotografiert. Ich weiß, zu welcher Tageszeit das Licht durch welches Fenster welche Effekte hat, der Belichtungsmesser liegt unbenutzt im Koffer. Gut die Hälfte der Bilder sind Selbstporträts, immer mit Stativ und Timer. Dabei sind alle Linien durchdacht, der Bildaufbau im Notizbuch vorskizziert, ich denke in Filmsequenzen, ein Foto führt zum nächsten. Das Warten ist dann die letzte Unsicherheit, durch die sich alles noch einmal ändern kann: Die Pause zwischen dem Starten des Timers und dem tatsächlichen Klappen des Spiegels löst die Inszenierung mitunter auf, verschiebt sie bzw. mich von einer Seite des Spiegels auf die andere. 

Dass ich diese Serie über die folgenden drei Jahre fotografieren werde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich bin mir, als ich hier im Badezimmer in der späten Septemberhitze den Timer starte, des Bildzitates bewusst. Nur ist dieses Badezimmer in keinem Zug und auch nicht blau gefliest, und statt eines blauen Auges gibt es einen horizontalen Schnitt in der Körpermitte. Trotzdem.

Mit dem nächsten Blinzeln verschiebt sich das Bild erneut. Ich halte das eine Auge auf. Zwölf Sekunden, dann klickt der Verschluss. Der Spiegel klappt. Der Film spult automatisch zurück.

Das Foto Selbstporträt mit Handtuch #2, 2017 entstand im Rahmen der Abschlussserie, an der Rabea Edel von 2017-2020 arbeitete. Sie ist Studentin in der derzeitigen Abschluss-Klasse von Prof. Linn Schröder (Jahrgang 14).

Rabea Edel (*1982) lebt und arbeitet als freischaffende Schriftstellerin und Fotografin in Berlin. Nach einem Studium der Italianistik in Rom und längeren Auslandsaufenthalten, studiert sie seit 2017 an der OKS. Für ihre Arbeiten erhielt sie u.a. den Kunstpreis der Lotto-Brandenburg Stiftung (Literatur), war Artist in Residency am Goethe Institut Peking in Kooperation mit der Red Gate Gallery und wurde von der Bundesregierung als Stipendiatin in die Deutsche Akademie Rom-Casa Baldi eingeladen. In ihrer künstlerischen Arbeit konzentriert sie sich auf die Themen Mutterschaft und Mental Health, und kombiniert dabei häufig dokumentarische und auto-fiktionale Strategien. 

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