Nahaufnahme: Dr. Enno Kaufhold

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotograf*innen und Dozent*innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Diesmal haben wir den Foto-Historiker, Publizisten und Dozenten für Fotogeschichte an der Ostkreuzschule, Dr. Enno Kaufhold, gebeten, uns einen Einblick in die Entstehung seines Fotos zu geben.

Shanghai, Foto: Dr. Enno Kaufhold

Das Unerwartete in Fotografien
Der Blick auf Menschen bestimmte von Beginn an meine Fotografie. Das hatte und hat mit Life- wie expliziter Straßenfotografie zu tun. Ich möchte sehen, wie sich Menschen im öffentlichen Raum bewegen, ihre Gesten, ihre Gesichter, das Typische der jeweiligen Zeit und mehr. Und Sehen bedeutet, ich kann den Moment, den ich in Bruchteilen von Sekunden aufgenommen habe, anschließend in aller Ruhe betrachten, mich daran schlicht erfreuen, oder aber zu ganz neuen Erkenntnissen kommen. Jedenfalls halten Fotografien mehr fest, als ich anhand der ewig fließenden Alltagsbilder wahrnehmen kann. Folglich lag es nahe, dass ich während der 13 Tage, an denen ich von Ende Oktober bis Anfang November letzten Jahres in Shanghai war, Life- und Straßenfotografie betrieben habe.

Aus der Fülle der mitgebrachten Bilder sticht ein Motiv heraus, weil dabei, salopp gesagt, „Kollege Zufall“ oder pathetischer „Gottes Hand“ mitgespielt haben. Ich befand mich am nördlichen Ende der Straße, die entlang des Bundes verläuft, der berühmten Uferpromenade, als mir ein Mann entgegenkam, der einen Kinderwagen schob und zwei gelb eingekleidete braunhaarige Pudel an der Leine führte. Ein Motiv, auf das ich sofort ansprang. Als der Mann Anstalten machte, einen Fußgängerübergang zu überqueren, eilte ich auf die Fahrbahn voraus und richtete meine Kamera darauf ein, ihn beim Überqueren zu fotografieren. So geschehen.

Das Ergebnis übertraf alle meine Vorstellungen, wobei ich an dieser Stelle generell anmerke, dass ich von der Detailqualität der modernen Digitalkameras fasziniert bin, denn diese reicht an das frühere Großformat heran und liegt damit deutlich über den Ergebnissen analoger Kleinbildfotografie. Insofern ist schon die detaillierte Kulisse eindrucksvoll.

Zugleich bestimmt sie den formalen Aufbau des Bildes. Von der Brücke getrennt rahmen mehrere Bürohochhäuser im Hintergrund die Szene ein. Zum ästhetischen Bildaufbau tragen speziell der gelbe Fahrstreifen, daneben das gelbe Taxi und im Vordergrund die gelben Decken der Pudel bei. Damit korrespondieren mehrere blaue Flächen und, nicht minder wichtig, ein paar rote Farbtupfer. Neben diversen weiteren Details macht jedoch der Mann im Rollstuhl, der von links ins Bild geschoben wird, den eigentlichen Höhepunkt aus, denn ganz unvermeidbar stellt sich eine inhaltliche Beziehung zum Kinderwagen ein.

Im ganz allgemeinen Sinn zeigt das Bild das Leben schlechthin, wonach wir als Baby im Kinderwagen gefahren werden, danach folgt das aktive Leben, hier in den gehenden Passanten verkörpert, und am Lebensabend benötigen wir wiederum den Rollstuhl, buchstäblich oder im übertragenen Sinn. Es ist dieses Zusammengehen einzelner Elemente, das mich an dem Bild frappiert, das umso mehr, als ich diese Konstellation in keiner Weise vorhersehen, geschweige denn herbeiführen konnte.

Letztlich ist es dieses Unerwartete, wie ich es nur im fotografischen Moment sehen und mithin erleben kann, eben das unverstellte Leben, das meine Lust am Fotografieren wachhält.

Dr. Enno Kaufhold, Jahrgang 1944, Studium der Kunst- und Fotogeschichte sowie Soziologie. Lebt und arbeitet freischaffend als Fotohistoriker, -kurator und -publizist in Berlin. Zahlreiche Zeitungs-, Zeitschriften-, Katalog- und Buchtexte sowie eigenständige Buchpublikationen zur Fotografie. Seit 1997 Lehrtätigkeiten im Fach Fotogeschichte an staatlichen und privaten Bildungseinrichtungen. Seit 2005 Dozent für Fotogeschichte an der Ostkreuzschule für Fotografie.

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