Nahaufnahme: Magdalena Stengel

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen/-innen und Dozenten/-innen der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS) über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Die Fotografin Magdalena Stengel erzählt von der Begegnung mit einem 98-Jährigen im Rahmen ihrer Arbeit „±100„.

Foto: Magdalena Stengel, aus der Serie ±100
aus der Serie ±100, Foto: Magdalena Stengel

Dortmund im Sommer 2019. Ich stehe vor einer Haustüre und warte. Durch meine Arbeit an ±100 bin ich es schon gewöhnt, dass es zwischen dem Klingeln und Tür öffnen oft einige Minuten dauern kann. An diesem Morgen warte ich aber schon ungewöhnlich lange, bis ich Herrn Viefhaus schlurfenden Schritt im Flur höre. Ich besuche ihn zum vierten oder fünften Mal und mache mir etwas Sorgen. Es ist besonders heiß in diesem Sommer. Er ist 98 Jahre alt und die Hitze macht den meisten in dem Alter zu schaffen.

Die Tür öffnet sich langsam und ich sehe als erstes den Verband an seinem Arm. Auf seinen Gehstock gestützt lächelt er und sagt, dass er im Garten gestürzt sei. „Nix Wildes!“

Seit er kein Gemüse mehr anbauen kann, macht er wie verrückt Ableger von seinen Zimmerpflanzen, obwohl es immer beschwerlicher für ihn wird, sich um alles zu kümmern.

Wir gehen in die Wohnung, unterhalten uns ein bisschen. Dann raus durch die Küche in den Garten. Auf der kleinen Veranda stehen links vor der Backsteinmauer um die 25 Kakteen, alle der gleichen Sorte, in kleinen Töpfen ordentlich aufgereiht. Rechts unter seinem Wohnzimmerfenster stehen fünf oder sechs große Oleanderbüsche – seine Lieblingsblumen. Davor stehen wieder in drei Reihen: Kakteen und nochmal Kakteen – wie in einer Gärtnerei. Ich bemerke neue Töpfe seit meinem letzten Besuch.

Wenn Herr Viefhaus sich hinunter bückt, um zu sehen ob die Pflanzen genug Wasser haben, knickt sein Körper ganz gerade im rechten Winkel von der Körpermitte ab.

Er lässt mich allein und geht in die Küche.

Ich baue in der Zwischenzeit auf. Der Mittag nähert sich, die Temperatur steigt und ich frage mich, ob ich ihm nicht ein bisschen zu viel zumute.

Herr Viefhaus erscheint im Türrahmen und freut sich über seinen Oleanderbusch im improvisierten Studio. Er steht so schnell auf Postion, dass ich mich noch gar nicht bereit machen kann. Ich sage nichts und fotografiere.

Für meine Arbeit ±100 habe ich inzwischen 25 Personen zwischen 90 und 100 Jahren fotografiert. Die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt. Sogar jedes dritt, in 2019 geborene Kind wird nach neuesten Studien über 100 Jahre alt werden. ±100 erzählt von individuellen Perspektiven, von Glück und Unglück, von Krieg und Frieden innerhalb unterschiedlichster Lebenswirklichkeiten und Lebensräumen.

Magdalena Stengel wurde 1987 geboren und ist in Süddeutschland aufgewachsen. Nach einigen Jahren Assistenzzeit in Stuttgart, studierte Sie Fotografie an der Fachhochschule Dortmund und anschließend an der Ostkreuzschule für Fotografie in der Meisterklasse von Ingo Taubhorn und Prof. Ute Mahler. Magdalena Stengel lebt und arbeitet in Bremen und Hamburg.

Die Serie ±100 von Magdalena Stengel wurde aufgenommen in die Shortlists des ZEISS Photography Award 2020 und des Sony World Photography Award 2020 in der Kategorie Professional, Porträt.