Ein schönes Bild – Teil 2

»Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als „schön“ zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön“ nicht vorkommt. Jeder Bildredakteurin sollte ein Bild auswählen, das sieer in dem vergangen Jahr „entdeckt“ hat und begründen, warum ihrihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie*ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.«
Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion
Aus der Serie Hometowns von John MacLean. Ausgewählt von Nadja Köffler

Das Jahr 2019 war geprägt vom Ableben großer Foto-Legenden. Mit dem Tod von Robert Frank verlor die internationale Fotoszene, neben Volker Hinz, Peter Lindbergh und Robert Freeman, einen der einflussreichsten Foto-Künstler des 20. Jahrhunderts, der mit seinen lakonischen Bildern zur Tristesse Amerikas ganze Generationen von Fotograf/-innen inspiriert hat. Dazu zählt sich auch der britische Fotograf John MacLean. Von der Vision getrieben, das Aufsuchen der Heimatorte seiner „Vorbilder“ bringe Hinweise zu den Ursprüngen ihrer visuellen Handschrift ans Licht, reiste MacLean für seine Serie Hometowns in die Schweiz und wandelte dort auf den Spuren Robert Franks. In Wipkingen fotografierte er eine Gruppe junger Männer, die unter waghalsigen Manövern in den Fluss Limmat sprangen. Das hier gezeigte Bild liest sich wie ein visueller Nachruf auf Frank und sein Leben, das von „Sprüngen ins kalte Wasser“ gezeichnet war. Es besticht vor allem durch die Präsenz des „entscheidenden Momentes“ – ein Ideal, das Robert Frank in Rückgriff auf Henri Cartier-Bresson konsequent fotografisch verfolgt hatte –, und zeigt jenen Augenblick, in dem sich der junge Mann in einem Zustand der Schwerelosigkeit befand, kurz bevor ihn die Erdanziehungskraft nach unten in den grau-grünen Sud zwang. Die planimetrische Fokussierung des von der Sonne angestrahlten Körpers vor der Kulisse des dunklen Wassers und die Körperhaltung des jungen Mannes lassen an den gekreuzigten Jesus in Salvador Dalís Gemälde Corpus Hypercubus erinnern, wodurch das Bild einen sakralen Beigeschmack erhält. Die Szene wirkt insgesamt eingefroren und still. Sie ist reduziert auf das Wesentliche, so als würde sie die Essenz des menschlichen Lebens pointiert zu fassen versuchen. Für mich erzählt das Bild vom Mut des Menschen, sich stetig in unbekanntes Terrain vorzuwagen und sich dem Leben immer wieder hinzugeben, auch wenn unklar ist, was es letztlich für einen bereit hält – eine Gabe, die auch Robert Frank besaß und ihn wohl zu dem machte, als der er uns in Erinnerung bleiben wird.

‘There is little privacy within the checkpoints and patrol bases of Helmand. Soldiers often use their mosquito tents to provide some personal space, decorating them with gifts from loved ones.Checkpoint Oulette, Afghanistan, 2012, von Alison Baskerville. Ausgewählt von Till Rimmele

Ich kann nicht genau sagen, warum, aber dieses Bild spricht wirklich zu mir, jedes Mal, wenn ich es betrachte. Nach wie vor bin ich mir nicht genau sicher warum. Das Bild ist kompositorisch ansprechend und harmonisch. Wir sehen eine liegende Frau, mit von uns abgewandtem Blick, auf einem spartanischen Feldbett und unter ihrem Moskitonetz liegend. Ein kleiner gelber Teddy mit einem Foto dahinter lehnend scheint über sie zu wachen. Das NATO-Olivgrün des Moskitonetzes zusammen mit dem Gitter der braun-gräulichen Schutzwand im Hintergrund stehen im Kontrast zu der Frau im weißen Top.

Dieses Bild symbolisiert für mich gradlinig und ehrlich ein Gefühl der Geborgen- und der Verborgenheit zugleich. Die Fotografin führt uns hinter die Kulissen der Kriegsschauplätze und gibt uns einen intimen Einblick in das Leben einer Soldatin. Sie macht das Private öffentlich, zeigt uns, was wir normalerweise verborgen bleibt. Es ist offensichtlich und doch oft übersehen: es geht immer um den Menschen.

Das ist ein anderes Bild der Konfliktfotografie. Konflikt, das ist nicht nur der Mann mit der Waffe, die direkte Gewalt und das Blutvergießen. Konflikt findet auch jenseits der physischen Ebene statt, in unseren Köpfen und Herzen.

Die innere Zerrissenheit zwischen Realität und Traum, zwischen Pflichtbewusstsein und dem Drang bei den Lieben zu sein. Alison Baskerville zeigt in einem Bild was Konflikt für jene bedeutet, die in ihm gefangen sind. Fast alle von uns können sich daran erinnern, wie wir träumend, hoffend, ängstlich, vermissend und im Andenken verloren auf dem Bett lagen.

Zu lange haben wir ein undifferenziertes Bild von Krieg, Konflikt und Vertreibung gesehen. Ein Bild wie dieses, bricht die so oft gesehenen Narrative für mich. Weg von der pseudo heroischen sozial konstruierten „Maskulinität“, hin zu ehrlichem Verständnis, differenziertem Sehen und Empathie.

Wir werden immer gespaltener als Gesellschaft. Wir sehen die offensichtlichen Gemeinsamkeiten ineinander nicht mehr. Dieses Bild erinnert mich an die Dualität und die Qualität eines Miteinanders, das uns allen innewohnt. Das Bild sagt mir, dass wir die Unterschiede und Gegensätze, welche uns spalten, überwinden können. Genauso, wie die uns unbekannte Soldatin auf einem Feldbett in einem afghanischen Militärlager liegend Andacht hält, um Mut Hoffnung und Kraft für ein friedvolles Miteinander zu finden.

BEING GAY IN PAPUA NEW GUINEA von Vlad Sokhin. Ausgewählt von Marleen Hahn

In Papua-Neuguinea ist Homosexualität illegal. Immer wieder wird homosexuellen Menschen Gewalt angetan, teilweise bis zum Tod. Werden derartige Gewalttaten angezeigt, geht die Polizei nicht gegen die Täter vor, sondern verhaftet die Opfer wegen des Praktizierens von gleichgeschlechtlicher Sexualität. Die Strafen dafür betragen bis zu 14 Jahre Haft.

In der Stadt Port Moresby gibt es einige wenige Clubs, die von Zeit zu Zeit Gay Nights anbieten, doch die Ausflüge dorthin können gefährlich sein. Auf den Partys gab es in der Vergangenheit immer wieder Attacken von Straßengangs oder der Polizei.

Das ausgewählte Bild aus der Serie BEING GAY IN PAPUA NEW GUINEA von Vlad Sokhin zeigt Mitglieder der LGBT-Szene in einem Umkleideraum des Clubs Diamond in Port Moresby. Die Blicke der abgebildeten Personen ziehen die Betrachtenden in die Thematik und lassen gleichzeitig Raum für individuelle Interpretation. Es zeigt gleichzeitig Dynamik wie Stillstand, Frust wie Kraft, während die Farbkomposition des Bildes eine gezielte Gestaltung aufweist. Vlad Sokhin führt uns ein in die besonderen und nicht ungefährlichen Lebensumstände dieser Menschen im Südwestpazifik. Seine Bilder bewegen sich fernab dessen, was uns an Geschichten aus dem Inselstaat durch die übliche Medienberichterstattung erreicht.

Vlad Sokhin ist ein russisch-portugiesischer Dokumentarfotograf, Videographer und Multimedia-Produzent. Er befasst sich mit sozialen, kulturellen, Umwelt-, Gesundheits- und Menschenrechtsfragen auf der ganzen Welt, einschließlich Post-Konflikt- und Naturkatastrophengebieten.

Aus der Serie Drown in Magic von David Uzochukwu. Ausgewählt von Ann Kristin Ziegler

Das erste Mal zog mich die Fotografie von David Uzochukwu auf dem Unseen Festival in Amsterdam in den Bann.
Sanfte Pastellfarben, ästhetisch sehr ansprechend, ein Hauch von Magie.
Die, auf den ersten Blick, so perfekte und mystischen Welt wird durch eine
Blutlache gestört und wirft sofort einige Fragen auf.
Wer ist diese Person, die uns graziös und gleichzeitig gebrochen, ihren oder seinen Rücken zuwendet? Was ist in dieser surrealen Welt gerade geschehen? Wir beginnen in das Bild einzutauchen, unsere Fantasie wir angeregt.

Das Bild Slab ist im Senegal entstanden und Teil der fotografischen Serie Drown in Magic. Der junge Fotograf mit österreichisch-nigerianischen Wurzeln visualisiert durch seine Arbeit leidende humanoide Wasserkreaturen, die symbolisch für eine vermeintliche Andersartigkeit, die auf schwarze Körper projiziert wird, stehen. Er kreiert inhaltlich gewichtige Symbolbilder, die nicht nur Kritik an der Entmenschlichung schwarzer Menschen ausüben, sondern auch gleichzeitig für die Ermächtigung einer Minderheit in der westlichen Gesellschaft stehen.

David Uzochukwu gelingt es durch seine Art zu fotografieren und inszenieren, seine Betrachter-/innen aus dem Alltag zu reißen, ihnen Zugang zu mystischen und übernatürlichen Szenerien zu ermöglichen und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht gerade deshalb, berühren seine Bilder auf eine ganz aussergewöhnliche Art und Weise.

‘A tourist stands in front of the Coliseum at night. This worldwide renown truistic spot was visited by more than 6 millions persons during 2016. In the same year the renovation works, funded by Tod’s shoes brand with 25 million euros, ended.
Aus der Serie und dem Buch RhOME (2018) von Jean-Marc Caimi und Valentina Piccinni. Ausgewählt von Robert Rausch

Die ewige Stadt neu zu fotografieren ist im Zeitalter von Smartphones, Instagram und Massentourismus nicht leicht. Jean-Marc Caimi und Valentina Piccinni starten nicht mit Reiseführer oder Geschichtsbuch, sondern mit Lust auf die Menschen und das pralle Leben. Sie durchstreifen das bekannte und das verborgene Rom, sammeln banale und intime, zeitlose und saftig lebendige Splitter (Begleittext) ihrer Heimatstadt. In den Bildern hat Rom keine Farben, dafür harte Kontraste. Der subjektive Blick kommt in Gestalt des Dokumentarischen, leiht sich die Ästhetik des Neorealismus. Durch kraftvolle Entfremdung entstehen Bilder voller Nähe und Emotion. Die Serie editieren sie zu einem Buch mit dem Titel RHome.

Unter den Bildern ist das des Touristen, mittig vor dem Kolosseum, so wie in Millionen Schnappschüssen. Ein Allerweltsbild. Und die zentrale Doppelseite des Buches. Das Hauptmotiv ist bis zur Unkenntlichkeit überbelichtet, der Himmel schillert voller abstrakter Lichtreflexe, Belichtung und Beleuchtung lassen Tag und Nacht verschwimmen. Das Bild sträubt sich gegen die immer gleichen Bilder. Die Fakten sind dem Foto entzogen: der Tourist ist aus dem Bild getilgt, die ewige Stadt ist zeitlos, die Atmosphäre dominiert die Architektur. Die gekonnt falsche Fotografie bringt ein anderes Bild von Rom zum Vorschein. Das demonstrative Klischee des Selfieknipsers – seht, ich war da – wird umgekehrt zum individuellen, emotionalen Statement der Fotografen.

Mir gefällt ein Foto meistens ganz spontan. In Erinnerung bleibt es mir, wenn sich Inhalt und Form geschickt ergänzen. Es ist immer wieder verblüffend, wie unterschiedlich Fotograf/-innen beides kombinieren. Es führen viele Wege zu einem „schönen“ Bild.

Schlachtung einer Milchkuh aus der Serie Kuhmilch von Manuela Braunmüller. Ausgewählt von Verena Dorina Meyer

Weltweite Konfliktthemen fotojournalistisch und dadurch anschaulich und gleichzeitig inhaltlich wertvoll darzustellen, ist ein wichtiger Schritt, um Aufmerksamkeit zu schaffen und so ein Stück weit zu einer positiven Entwicklung beizutragen. So auch bei diesem Foto der Serie Kuhmilch von Manuela Braunmüller.

In ihrer Reportage verfolgte sie die einzelnen Schritte bei der Herstellung von Kuhmilch – in Milchviehbetrieben, Molkereien, im Schlachthof. Ein Prozess der viel Leid für die Tiere bedeutet, was trotz des hohen Konsums von Kuhmilch (in Deutschland im Jahr 2018 knapp über 50 Liter pro Kopf), wenigen bewusst ist. Dass die Produktion von Kuhmilch nicht schlachtfrei ist, zeigt dieses Bild. Sehr grafisch und fast schon ästhetisch bringt uns die Fotografin der meist ignorierten Thematik der Kuhmilchproduktion näher. Das Blut der getöteten Kuh fließt hier quer durch das Bild in den Gulli und zeigt für mich metaphorisch auch das Leid, dass wir Menschen verursachen, und immer wieder unter den Teppich kehren. Einfach nicht sichtbar machen.

Braunmüllers Reportage dagegen, zeigt das Gegenteil. Sie lenkt unsere Augen auf Momente, die nicht einfach zu sehen sind, aber wichtig, um informiert zu werden und damit Verantwortung übernehmen. Wenn ein Bild Bewusstsein schafft, so wie dieses, ist es für mich ein starkes Foto.

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