Rencontres d’Arles 2019 – Unsere Entdeckungen

Freiluft Fotoausstellung an einer Häuserwand in Arles 2019, Foto: Robert Rausch
Freiluft Fotoausstellung an einer Häuserwand in Arles 2019, Foto: Robert Rausch

Die Highlights der 50. Ausgabe des Festivals für Fotografie in Arles haben bereits viel Aufmerksamkeit bekommen. OKS.lab zeigt eine Reihe von verborgeneren Entdeckungen der Rencontres 2019, ausgewählt von Robert Rausch, Teilnehmer der Bildredaktionsklasse 2019/20 an der Ostkreuzschule für Fotografie (OKS).

Viel ist bereits geschrieben worden über die Rencontres de la Photographie in Arles 2019. Es wurde gestaunt über die Kraft und Poesie der neu entdeckten Bilder von Libuše Jarkovjáková. So wie man allgemein, nach der Kritik von 2018, die Vielzahl der vertretenen Fotografinnen lobte: Helen Levit, Eve Arnold, Abigail Helman, Susan Meiselas und die mit dem Prix Madame Figaro ausgezeichnete Evangelia Kranioti. Wechselwirkungen von Fotografie und Tagespolitik zeigten die Ausstellungen La Movida, über die Fotografie der Post-Franco-Ära in Spanien, die Show Home Sweet Home, in der 34 Fotograf/-innen während der Brexit-Verhandlungen Bilder des britischen Zuhause zeigten, oder Restless Bodies, in der Kuratorin Sonia Voss herausarbeitet, wie 16 Fotograf/-innen in der DDR mit Bildern des Körpers individuelle Freiheit ausdrückten – darunter auch einige Fotograf/-innen der Agentur Ostkreuz.  Ein absolutes Highlight war die umfassende Schau Photo Brut aus der Sammlung Bruno Decharme, die eindrucksvoll und höchst inspirierend belegt, wie viel unbändige kreative Kraft zu jeder Zeit im Medium Fotografie steckt – weit abseits von Akademien, Kunstmarkt oder Instagram.

Bei so viel Spektakel bleibt zwangsläufig einiges ungesehen und unberichtet. Dieser Beitrag stellt eine subjektive Auswahl der nicht so häufig genannten Positionen und Künstler/-innen vor.

01 – Mohamed BourouissaL’Utopie d’August Sander

Gut erkennbar war in diesem Jahr, wie sehr zeitgenössische Fotografie und ihre Inszenierung das Bilde vom Rahmen an der weißen Wand befreit. Die Gruppe The Anonymous Project verwandelte für die Ausstellung The House ein komplett leerstehendes Arleser Haus in ein begehbares, privates Fotoalbum mit Amateur-Fotografien der letzten 70 Jahre, Einbauküche, Sofas und Esstisch. Für L’Utopie d‘August Sander erweiterte Mohamed Bourouissas seine sozial engagierte Fotografie in eine neue Dimension und hinterfragte anschaulich die etablierten ökonomischen und kulturellen Rollen von Menschen und ihren (Ab-)Bildern. Mittels 3D Scan und Drucker schuf er Abbilder arbeitsloser Personen und verpackte sie als eine Art Actionfiguren. Diese Figuren machte er auf Flohmärkten wieder zu Konsumobjekten. In der Ausstellung konnten die gescannten Menschentypen per Augmented Reality App in den Kunstkontext eingefügt werden.

"L'Utopie d'August Sander", links Ausstellungsansicht Arles 2019 (Foto: Robert Rausch), rechts: Flohmarkt © Mohamed Bourouissa
L’Utopie d’August Sander, links Ausstellungsansicht Arles 2019, Foto: Robert Rausch
rechts: Flohmarkt, Foto: Mohamed Bourouissa
"L'Utopie d'August Sander", Ausstellungsansicht mit Augmented Reality, Arles 2019, © Mohamed Bourouissa
L’Utopie d’August Sander, Ausstellungsansicht mit Augmented Reality, Arles 2019, Foto: Mohamed Bourouissa

02 – Luce LebartThe Saga of Inventions

Einen anderen Zusammenhang von Innovation und Fotografie zeigte sehr interessant und unterhaltsam die Ausstellung The Saga of Inventions, kuratiert von Luce Lebart. Aus Beständen der französischen Archives Nationales hebt die Ausstellung einen Schatz an fotografischen Dokumentationen von Erfindungen der Jahre 1915 bis 1938. Die aus heutiger Sicht oft skurrilen Erfindungen und ihre betont neutral Darstellung stehen zueinander in reizvollem Kontrast. Vergleichbar dem Fotobuch Klassiker Evidence von Larry Sultan und Mike Mandel thematisiert die Ausstellung die Ambivalenz der Fotografie in ihrer Rolle zwischen Dokument und Propagandawerkzeug. Die Ausstellung wird ab November 2019 in China gezeigt und kommt 2021 nach Deutschland.

Tourelle pour l'observation des oiseaux et des Avions, Archives nationales (398AP/27), aus der Ausstellung "The Saga of Inventions", kuratiert von Luce Lebart
Tourelle pour l’observation des oiseaux et des Avions, Archives nationales (398AP/27), aus der Ausstellung „The Saga of Inventions“, Kuration: Luce Lebart

03 – Mehrali RazaghmaneshA or I

Eine andere Art der Evidenz haben in mehrfacher Hinsicht die Bilder von Mehrali Razaghmaneshs Serie A or I. Als Teil der engagierten Ausstellung On Earth, mit zahlreichen Positionen zum Verhältnis des Menschen zur Umwelt, zeigte der iranische Künstler atmosphärische Gummidruck Abzüge von Fotos des Hyrkanischen Waldes. Dieser liegt beiderseits der Grenze zwischen Aserbaidschan und Iran. Weil sich beide Länder nicht einigen können, wer im Verzeichnis des UNESCO Welterbes an erster Stelle genannt werden soll, wurde der Wald noch nicht offiziell in die Liste aufgenommen. Dadurch ist dieser einzigartige Lebensraum noch mehr von der Zerstörung bedroht. Das Gummi für den Druck seiner Bilder gewinnt Razaghmanesh aus den Bäumen eben dieses Waldes. Die gerahmten Drucke entwickeln eine körperliche Ausstrahlung, die sich in den digitalen Medien leider nicht reproduzieren lässt.

A OR I, Mehrali Razaghmanesh, Image courtesy of Mehrali Razaghmanesh and Ag Galerie
A OR I, Mehrali Razaghmanesh, Foto: mit freundlicher Genehmigung von Mehrali Razaghmanesh / Ag Galerie
A OR I, Mehrali Razaghmanesh, Image courtesy of Mehrali Razaghmanesh and Ag Galerie
A OR I, Mehrali Razaghmanesh, Foto: mit freundlicher Genehmigung von Mehrali Razaghmanesh / Ag Galerie

04 – Chia HuangErrances

In einer dem Festival assoziierten Ausstellung zeigte die Stiftung Manuel Rivero-Ortiz junge Fotografinnen aus Taiwan (Focus Taiwan). In ihrer Ausstellung Errances kombinierte die Fotografin, Komponistin und Filmemacherin Chia Huang vier dokumentarische Projekte zu einer Installation aus Fotografien, Objekten und gemalten Bildern. Ihr kollaboratives Projekt Silence is speaking, über und mit zwei autistischen Kindern und ihrem alleinerziehenden Vater, ist aufgrund seiner beeindruckenden aber ebenso feinfühligen visuelle Präsenz bemerkenswert. Aktuell arbeitet Chia Huang an der Grenze zwischen Italien und Frankreich an einem dokumentarischen Projekt mit Flüchtlingen und Bildmaterial, das diese selbst per Handy aufnehmen.

"Red kid", (C) Chia HUANG 2019
Red kid 2019, Foto: Chia HUANG
"A nap", (C) Chia HUANG 2018
A nap 2018, Foto: Chia HUANG
"Watch television and cellphone at the same time", (C) Chia HUANG 2018
Watch television and cellphone at the same time 2018, Foto: Chia HUANG
"Errances", Chia Huang, Ausstellungsansicht Arles 2019, Foto: Robert Rausch
Errances von Chia HUANG, Ausstellungsansicht Arles 2019, Foto: Robert Rausch

05 – Katherine LonglyTo tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit

Ein wachsendes Festival wie die Rencontres (Besucherrekord 2019: 145.000) ist hinter den Kulissen mit einiger Dynamik verbunden. Das führt im Programm zu mancherlei Facetten. So boten 2019 gleich zwei verschiedene Fotobuch Märkte (Temple und Cosmos, hier ein Bericht dazu) ein reiches Programm. Die offiziellen Awards für Fotobücher wurden in 3 Kategorien und einer besonderen Erwähnung verliehen. Auf der 18 Positionen umfassenden Shortlist des darüber hinaus verliehenen LUMA Rencontres Dummy Book Award findet sich das visuell, formal und inhaltlich bestechende To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit von Katherine Longly. Gemeinsam mit ihren Protagonist/-innen, mit Bildern aus Wegwerfkameras, Interviews und gefundenem Material, verarbeitet sie die alptraumhaften Erfahrungen ihrer übergewichtigen Jugend in Japan. Heraus kommt eine verschachtelte, über-zuckerte Geisterbahn der kulinarischen Versuchungen, Flüche und Frustrationen.

Buch Titel "To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit", Katherine Longly
Buch Titel „To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit“, Foto: Katherine Longly
Aus "To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit", Katherine Longly
Aus „To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit“, Foto: Katherine Longly
Aus "To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit", Katherine Longly
Aus „To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit“, Foto: Katherine Longly
Aus "To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit", Katherine Longly
Aus „To tell my real intentions, I want to eat only haze like a hermit“, Foto: Katherine Longly

06 – Ouka Leele – Teil der Ausstellung La Movida

Apropos Achtung vor Zucker: das süßsaure Bild Peluqueria, Limones von Ouka Leele schaffte es zeitgleich auf die Ausstellungsplakate der Rencontres und des C/O Berlin. Als Geheimtipp geht Ouka Leele so zwar nicht durch. Doch begeisterten ihre in der Schau La Movida gezeigten Fotografien von kolorierten Silbergelatineabzüge allesamt mit einer doppelbödigen Kombination aus poppiger Schönheit und ureigener Symbolik. Einzigartig, undefinierbar, zeitlos und faszinierend.

"Madrid", © Ouka Leele 1984
Madrid“ 1984, Foto: Ouka Leele
"Me levanto por la mañana, hay un gran charco en mi casa", © Ouka Leele 1986
„Me levanto por la mañana, hay un gran charco en mi casa“ 1986, Foto Ouka Leele

07 – Máté BarthaKontakt

Echte Newcomer findet man im umfangreichen Hauptprogramm von Arles am ehesten in den kleinen, hierfür vorbehaltenen Ausstellungen. Den Louis Roederer Discovery Award 2019 konnte der Ungar Máté Bartha mit seiner Serie über paramilitärische Sommerlager für Kinder und Jugendliche in seinem Heimatland gewinnen. Für die Serie schuf er ikonische Tableaus mit irritierend ambivalenten Konstellationen und Portraits junger Menschen in Uniformen, mit Waffen, beim Drill und bei alltäglichen Verrichtungen im Camp. Die umfangreiche Serie praktisch ausnahmslos starker Bilder lohnt unbedingt einen Blick auf seine Website.

Aus "Kontakt" 2018, (c) Máté Bartha
Aus "Kontakt" 2018, (c) Máté Bartha
Aus "Kontakt" 2018, (c) Máté Bartha
Aus "Kontakt" 2018, (c) Máté Bartha
Alle Bilder aus „Kontakt“ 2018, Foto: Máté Bartha
"Kontakt", Máté Bartha, Ausstellungsansicht, Arles 2019, Foto: Robert Rausch
„Kontakt“ von Máté Bartha, Ausstellungsansicht, Arles 2019, Foto: Robert Rausch

08 – Ostkreuzschule für Fotografie – Neun Abschlussarbeiten

Im Programm der Voies Off ist das Fotohaus ParisBerlin eine Institution. Alle zwei Jahre präsentiert die OKS dort eine Auswahl von Abschlussarbeiten der letzten beiden Jahrgänge. Diesmal vertreten waren Miguel Brusch, Charlott Cobler, Uli Kaufmann, Patricia Morosan, Jana Sophia Nolle, Toni Petraschk, Nils Stelte, Anna Tiessen und Sebastian Wells. Das Haus am Kleistpark präsentierte außerdem den OKS-Dozent Göran Gnaudschun mit einer eigenen Ausstellung im Haus. Allein die Qualität dieser Arbeiten und die Ausstellungen von rund 40 weiteren Fotograf/-innen wären die Erwähnung wert. Abgesehen davon muss das Haus in der Rue de la Roquette, ein Zentrum des Nachtlebens der Eröffnungswoche, unbedingt als Tipp für entspanntes Netzwerken, spannende Gespräche und ausgelassenes Feiern genannt werden.

"Julius und Paulina, Savignyplatz" von Charlotte Kobler im Photohaus ParisBerlin 2019 in Arles, Foto: Robert Rausch
„Julius und Paulina, Savignyplatz“ von Charlotte Kobler im Fotohaus ParisBerlin 2019 in Arles, Foto: Robert Rausch
Fotohaus ParisBerlin, Arles 2019, Foto: Robert Rausch
Fotohaus ParisBerlin, Arles 2019, Fotos: Robert Rausch

Alle Rechte der abgebildeten Fotografien liegen bei den angegebenen Fotograf/-innen und/oder Galerien.
Text: Robert Rausch, Bildredaktionsklasse 2019/20