Fiktion – »Lied vom Kindsein« von Peter Handke

Die Basisklasse der Ostkreuzschule für Fotografie hat diesen Sommer in Zusammenarbeit mit der Bildredaktionsklasse eine Fotoserie erarbeitet. Die Aufgabe bestand darin, fiktive Texte fotografisch zu interpretieren. Hier zeigen wir die fotografischen Interpretation des Peter Handke Gedichtes »Lied vom Kindsein« von Nancy Ludwig.

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluss,
der Fluss ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
sass oft im Schneidersitz,
lief auf dem Strand,
hatte einen Wirbel im Haar.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloss ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloss der Schein einer Welt der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und dass einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und isst jetzt das alles
und nicht nur zur Not.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeder Stadt
die Sehnsucht nach der noch grösseren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach den Kirschen
in einem Hochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

Nancy über ihre Interpretation des Gedichtes:

Ich beobachte, was sich bewegt, wie es sich verändert und zur Welt in Beziehung steht.
Durch wache Kinderaugen wahrnehmen, das Unerklärliche, Faszinierende erforschen und spüren, wie es sich zu einem Gefühl verdichtet.
Momente des Einfühlens, der Erkenntnis, des Verstehens, des Wünschens.
Wer bin in in dem großen Ganzen und wo ist mein Platz?
»Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum, und sie zittert da heute noch«.
Das, was uns als Kind prägt, schreibt sich fort, wache Erfahrungen tragen durchs Leben. Fragen und Beobachten hilft, sich daran zu erinnern.

Nancy Ludwig, 1983 in Berlin geboren, machte nach einer Ausbildung zur Produktdesignassistentin 2012 ihren Abschluss in Sozialer Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule. Seit März 2018 besucht sie die Basisklasse bei Werner Mahler. Ihr Interesse liegt vor allem in der Portraitfotografie.

www.nancyludwig.de

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