»Weniger Einzelbilder und mehr Geschichten«

Nadja Masri schrieb einmal: »Bilder sind etwas Wunderbares! Sie sprechen eine universelle Sprache und erreichen jeden in wenigen Sekunden.«

Ich frage mich gerade: Stimmt das wirklich? Denn sofort fiel mir Otto Bettman ein, den legendären Gründer des Bettman Archive in New York: »Ich kann die immer stärker werdende Betonung des Bildes nicht begrüßen«, erklärte er in einem Interview der New York Times. »Sie demontiert unsere Geschichte. Das Bild kann niemals Beschreibungen leisten, wie das Wort dies kann. Es ist alleine das Wort, das den Gedanken einfängt.«

Aber Bettman fügte immerhin versöhnlich hinzu: »Pictures are very democratic.« Am Anfang war das Bild oder das Wort und jeder fotografiert. Darüber sollten wir reden.

Mit Nadja Masri sprach Stefan Hartmann

Foto: Caroline Scharff

PICTORIAL: Liebe Frau Masri, was ist nun elementarer: Das Wort oder das Bild?

Nadja Masri: Im Fotojournalismus ist das Zusammenspiel von Wort und Bild wichtig. Das Bild oder die Bilder sollten den Betrachter neugierig machen, mehr wissen zu wollen, sie sollten informieren, aber auch Fragen stellen, die dann im Text erörtert werden können. Im Idealfall erzählen die Bilder eine eigene Geschichte und sind nicht nur eine reine Illustration zum Text. Studien belegen, dass Bilder wichtig sind, damit Texte wahrgenommen werden.

PICTORIAL: Was meinen Sie? Inwiefern können Bilder »demokratisch« sein?

Nadja Masri: Sie sind demokratisch in dem Sinne, dass Bilder für alle zugänglich sind, sie schließen ein, nicht aus. Jeder kann Fotos machen und sie heute auch unmittelbar zur Verfügung stellen. Täglich werden Millionen von Bildern ins Netz gestellt, dadurch sind wir einer regelrechten Bilderflut ausgesetzt.

Umso wichtiger sind visuelle Expert/-innen, die rasch aus den Unmengen an Bildern die Guten von den Schlechten unterscheiden können und in der Lage sind dezidiert und detailliert zu beschreiben, warum ein Bild oder eine Serie gut ist.

PICTORIAL: Auch das kommerzielle Bildangebot explodiert, denken wir nur an Mikrostock. Aber – zugegeben überspitzt formuliert – alles explodiert in die gleiche Richtung! Welche Techniken oder Methoden muss man als moderne Bildredakteurin entwickeln, um da das Besondere zu finden? Oder auch nur, um den Überblick zu behalten?

Nadja Masri: Als Bildredakteur/-in muss man extrem gut strukturiert sein und ein gutes visuelles Gedächtnis haben bzw. entwickeln. Es gibt unglaublich viele Quellen: Fotograf/-innen, Agenturen, Blogs, Fotobücher, Ausstellungen, Festivals. Es ist wichtig zu wissen, was es gibt, und dann muss man filtern und festhalten.

Wie? Da hat jeder seine eigene Methode, aber es sollte so sein, dass man viele Bilder im Gedächtnis hat und bei Bedarf abrufen kann und die, die man nicht im Gedächtnis hat, sollte man aufgrund einer guten Struktur auf seinem Rechner oder im World Wide Web (wieder-) finden. In der Bildredaktionsklasse an der OKS teilen wir »Entdeckungen« und nützen die Synergien der Gruppe, so dass jeder (s)ein visuelles Gedächtnis in relativer kurzer Zeit unglaublich erweitern kann.

PICTORIAL: Wenn ich Ihre persönliche Bildredakteurslaufbahn betrachte, dann fällt auf, dass Sie jeweils bei sehr bildaffinen – wie soll ich sagen: gute Fotografie wertschätzenden – Publikationen, wie Geo, mare, stern, tätig waren. Wird man da nicht verwöhnt?

Nadja Masri: Ich hatte das Glück für Publikationen zu arbeiten, die Fotograf/-innen und deren Arbeit wertschätzen und bei denen Qualität großgeschrieben war. Ich konnte so dem Anspruch an meine eigene Arbeit gerecht werden.

PICTORIAL: Ich selbst habe – offen gestanden – nie verstanden, was ein gutes Bild ausmacht. Kann man das lernen? Gibt es universelle Regeln?

Nadja Masri: Meiner Meinung nach ist ein gutes Bild eine magische Mischung aus Komposition, Inhalt, Kontext und Emotionen, das eine Geschichte erzählt, eine Handschrift zeigt und den Betrachter bewegt.

Es gibt keine Zauberformel, aber Kriterien, die man anwenden kann. So kommt man der Sache auf den Grund, warum ein Bild gut ist oder nicht. Aber das wird nicht gelehrt. In der Schule lernt man Texte zu interpretieren, aber nicht Bilder »zu lesen«, visual literacy ist nicht wirklich Teil des Lehrplans. Das finde ich sehr bedauerlich. Da wir im Zeitalter der Bilder leben, sollten wir keine visuelle Analphabeten sein.

PICTORIAL: Als Dozentin an der Ostkreuzschule bilden Sie ja junge Bildredakteure aus. Welche Qualitäten, Fertigkeiten, Soft Skills sollte ein Bildredakteur/-in mitbringen, um auf diesem schmäler und härter werdenden Markt erfolgreich bestehen zu können?

Nadja Masri: Bildredakteur/-innen sollten durch professionelle Bildersuche und gekonntes Auswählen und Zusammenstellen der besten Bilder die fotografische Qualität garantieren, ob für Print oder Online, ein Buch oder eine Ausstellung. Bildredakteure sollten Fotografen, egal wo auf der Welt, ausfindig machen und beauftragen können. Und sich außerdem fotorechtlich auskennen und gerade im Journalismus ethische Richtlinien kennen, um Glaubwürdigkeit und Authentizitätsansprüche zu garantieren. Schließlich sollten Bildredakteure Content Management Systeme beherrschen und über Social Media und multimediale Kompetenzen verfügen.

Ein/-e gute/-r Bildredakteur/-in ist ein/-e Experte/Expertin für Bilder, aber eben auch ein/-e Redakteur/-in, der inhaltlich und konzeptionell denkt. All das professionell und leidenschaftlich zu vermitteln, ist das Ziel der Ostkreuzschule für Fotografie.

PICTORIAL: Welche Vorbildung haben Ihre Student/-innen?

Nadja Masri: Viele Student/-innen sind ausgebildete Fotograf/-innen, aber nicht alle. Es gibt auch Grafiker/-innen, Leute aus Film und Fernsehen, Geisteswissenschaftler/-innen, aber auch »Exot/-innen« wie Sozialpädagog/-innen oder Psycholog/-innen, die alle die Leidenschaft für Fotografie eint und der Wunsch ihre Kompetenzen in diesem Bereich zu vertiefen und bildredaktionell oder kuratorisch zu arbeiten.

PICTORIAL: In der Folge reduzierter Bild-Budgets in den Unternehmen und Redaktionen werden Bildredakteur/innen immer unfreier. In dem Sinne, dass die Bildauswahl oft nur noch aus Quellen erfolgen kann, mit denen das Unternehmen Rahmenverträge hat. Auftragsfotografie / Assignment wird durch Stockfotografie ersetzt, Rights managed durch Royalty free oder Microstock. Hat der Beruf damit an Reiz verloren?

Nadja Masri: Es kommt natürlich darauf an, für wen man arbeitet. Es gibt immer noch eine ganze Reihe von Magazinen, die beauftragen wie GEO, Greenpeace und mare und beschafftes Material ist ja nicht per se schlecht wie man z.B. in Dummy und Fluter sehen kann.

Es gibt außerdem viele Magazine von Unternehmen und Organisationen, die großen Wert auf eine qualitativ hochwertige Bildsprache legen, wie Bulletin, das Magazin der Credit Suisse, oder Impulse, das Magazin der Volkswagenstiftung.

PICTORIAL: Nach welchen Kriterien wählen Sie jene Bildagenturen aus, mit denen Sie – gerne – zusammenarbeiten? Was muss da alles stimmen?

Nadja Masri: Früher rief man bei Agenturen an und bestellte eine Bildauswahl zu einem Thema. Da war der persönliche Kontakt wichtig. Heute sucht man in der Regel selbst. Wo man sucht, das hängt wiederum davon ab, für wen man arbeitet, was man braucht und wie groß das Budget ist. Natürlich ist es toll, wenn man journalistisches Material beispielsweise von Magnum, der New York Times (über die Agentur laif), Ostkreuz oder 13 photo kaufen kann. Ein kleines Budget bedeutet heute aber nicht mehr automatisches schlechtes Bildmaterial.

PICTORIAL: Fotografieren Sie eigentlich selbst?

Nadja Masri: Ich bin keine Fotografin, sondern Kommunikationswissenschaftlerin. Es macht mir Spaß, für mich zu fotografieren: mein Umfeld, meine Kinder, was mir so vor die Linse kommt.

PICTORIAL: Welche Bilder möchten Sie gerne zeigen? Die Frage geht gerne auch in die Richtung: Wo sehen Sie als Redakteurin gewisse Defizite in den bestehenden Angeboten?

Nadja Masri: Wir brauchen weniger Einzelbilder und mehr Geschichten. Im digitalen Zeitalter wird die Geschichte hinter der Nachricht wichtiger, denn die Neuigkeit, die erfahren wir permanent und die ganze Zeit. Jeder hat Zugang zu Nachrichten, zu dem was auf der Welt passiert, aber die Geschichte in ihren Nuancen, ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität gilt es zu verstehen.

Da wir das Gefühl haben alles schon zig mal gesehen zu haben und auf dem besten Weg sind uns zu »Seh-Junkies« zu entwickeln – in dem Sinne von, »kenne ich alles schon, langweilt mich« – brauchen wir, meiner Meinung nach, um immer wiederkehrende relevante journalistische Inhalte zu transportieren, eine heterogene visuelle Berichterstattung. Das heißt neben der klassischen Reportage, sollte es Geschichten geben sowohl mit einer subjektiven, persönlichen Erzählweise – wie beispielsweise die von Evgenia Arbugaeva in der Serie Tiksi, als auch mit einer konzeptionellen Herangehensweisen wie Glenna Gordon’s Stilllife Serie »Mass Abduction in Nigeria« von 2014 oder Daniel Ochoa de Olza’s Portrait-Serie nach dem Terroranschlag von Paris im Herbst 2015.

PICTORIAL: Von Bildredakteur/-innen erwartet man – zumindest bei digitalen Publikationen – dass man nicht nur »Bild«, sondern auch »Multimedia« beherrscht. Spielt das in der aktuellen Ausbildung der Bildredakteur/-innen in Deutschland eine hinreichende Rolle? Aus Frankreich höre ich, dass Multimedia mittlerweile oftmals gleichberechtigt neben dem Bild gelehrt wird.

Nadja Masri: Bildredakteur/-innen gehört zu den wenigen Berufen, der kein Ausbildungsberuf ist und für den auch kein Studium angeboten wird. Die Ostkreuzschule ist eine der wenigen Institutionen, die Bildredakteur/-innen ausbildet.

Wir hatten das Erstellen von Multimedia Features ursprünglich im Programm, doch zu wenige haben es letztendlich später im Beruf gebraucht. Wir haben Multimedia-Expert/-innen, die lehren, so dass die Bildredakteure wissen, worauf es beim multimedialen Storytelling ankommt und solche Features beurteilen können. Eine Audioslideshow mit Text, Bildern und Musik kann nach der Ausbildung jeder zusammenstellen.

PICTORIAL: Sie kommen gerne in der Welt herum! Sie arbeiteten in der Schweiz, in den USA und in Deutschland. Aktuell gerade parallel in New York und Berlin. Das zwingt mich einfach zu einer sehr schweren Frage: Nach den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten der jeweiligen Bildsprachen in diesen Ländern. Oder sagen wir nur: rechts und links des Atlantiks. Gibt es da noch Differenzen?

Nadja Masri: Ich arbeite gerade nicht in NY, auch wenn ich eine Anfrage vom ICP zum Unterrichten bekommen habe. Als ich 2001 begonnen habe, in New York zu arbeiten, kamen noch Fotograf/-innen mit einem Karussell Dias zu mir. Diesem knalligen Diapositive-Stil stand in Deutschland eine farbreduzierte Negativ-Ästhetik gegenüber. Brand Eins war ein junges Magazin und zeigte Wirtschaftsbosse nicht als »Held/-innen« angeblitzt, sondern in natürlichen Licht, in eher monochromen Farben auf der Fensterbank sitzend – so wie Du und ich. Irgendwann fotografierten dann fast alle digital mit der Canon D5 und eine starke Postproduktion war »in«, die man – zu meinen großen Bedauern – heute zum Teil immer noch sieht. Der digitalen 35mm Optik überdrüssig, fingen Fotograf/-innen nach einiger Zeit an, zum einen wieder analog – auch mit Mittel- und Großformat – zu fotografieren und zum anderen ihre Iphones zu benutzen, so dass die Stile wieder vielfältiger wurden. Heute gibt es, meiner Meinung nach, keine Differenzen mehr wie noch Anfang 2000.

PICTORIAL: Mal weg von der Ästhetik, hin zur alltäglichen Praxis: Unterscheidet sich eigentlich die konkrete Arbeit in der Bildredaktion in Amerika von der in Deutschland? Sind Auftraggeber und Kunden jeweils »anders drauf«? Wo arbeitet man freier?

Nadja Masri: Ich habe in New York ja für GEO, also eine deutsche Publikation, gearbeitet. Es war eine kleine Community, die der Magazinredakteur/-innen und Fotograf/-innen. Der Austausch war großartig. Wir hatten ein tolles Netzwerk, man hat sich ausgetauscht und war zusammen auf Ausstellungen etc. unterwegs. Diese Offenheit ist typisch für New York.

Ansonsten würde ich sagen: Wir leben in einer globalen Welt. Man begegnet sich online und real auf Fotofestivals wie Lumix, Festival für jungen Fotojournalismus in Hannover, und tauscht sich mit den Kolleg/-innen von überall her aus.

PICTORIAL: Zum Abschluss ist es eine Tradition hier, dass sich Gesprächspartner/-in etwas wünschen können. Was würden Sie für die Bildredakteur/-innen wünschen? Von den Auftraggeber/-innen und von den Bildanbieter/-innen / Fotograf/-innen?

Nadja Masri: In einer visuell gesättigt scheinenden Gesellschaft ist es, meiner Meinung nach, wichtig, häufig gecoverte Themen anders darzustellen als beispielsweise erneut die bekannten, austauschbaren Bilder von Kerzen und Blumen nach einem Terroranschlag, so dass eben nicht weiterblättert oder gescrollt wird, sondern innegehalten, Interesse geweckt, geguckt und gelesen wird. Die nuancierte, komplexe Geschichte hinter der Nachricht muss erzählt werden. Ich wünsche mir also, neue Erzählformen im Fotojourna- lismus und den Mut, solche dann auch zu zeigen.

PICTORIAL: Herzlichen Dank für das Gespräch

Das Interview erschien in der Ausgabe Nr. 4, 2018 von Pictorial

Nadja Masri leitet seit 2011 die Klasse Bildredaktion an der Ostkreuzschule für Fotografie (Projekte u.a. oks-lab.de, die Fotobuchreihe New York Edited und die Konzeption von Buch Dummies zu aktuellen, relevanten gesellschaftspolitischen Themen für laif – Agentur). Sie ist Portfolio Reviewer und Jurorin bei Fotowettbewerben.

Seit 2010 arbeitet sie außerdem als freie Bildredakteurin und Beraterin (u.a. für Philosophie Magazin, GEO, Das Magazin, Mare Verlag, den Taschen Verlag und Fotografen). Von 2001 – 2010 war sie Büroleiterin und Senior Photo Editor des Korrespondentenbüros der Zeitschrift GEO in New York und war als Dozentin im Documentary Photography and Photojournalism Program am International Center of Photography (ICP), New York tätig. Davor war sie bei GEO, Hamburg; Bizz, Köln; Stern, Hamburg und bei der Agentur Ostkreuz, Berlin. Sie ist Kommunikationswissenschaftlerin (M.A.), FU Berlin.

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