Nahaufnahme

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen/-innen und Dozenten/-innen der Ostkreuzschule über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Diesmal haben wir die Fotografin und OKS-Studentin Lena Giovanazzi darum gebeten, uns einen Einblick in die Entstehung ihres Fotos zu geben.

„Willkommen in Wies“. Foto: Lena Giovanazzi

Das Bild ist Teil der Serie „Willkommen in Wies“, an der ich aktuell für die Postgraduiertenklasse der Ostkreuzschule arbeite. In einer Zeit, in der viele durch die anhaltende Berichterstattung für das Thema schon so gut wie desensibilisiert waren, hatte ich eigentlich nicht vor, auch noch eine Arbeit über Geflüchtete zu machen. Doch die Geschichte kam zu mir, buchstäblich vor meine Haustür. Weihnachten 2015 verbrachte ich bei meiner Mutter im Südschwarzwald, als ich erfuhr, dass im benachbarten Dorfgemeinschaftshaus syrische und irakische Familien und ein paar junge Männer aus Gambia und Nigeria aufgenommen werden sollten. Sie sollten sich dort drei Monate einen Raum teilen, indem sonst der Musikverein probt oder Feste gefeiert werden. Ich wusste sofort, dass ich nach den Weihnachtsfeiertagen nicht einfach nach Berlin zurückfahren konnte. Ich wollte dabei sein, wenn die Geflüchteten in meinem Heimatdorf ankamen. Ich wollte mit ihnen in Kontakt kommen und diese Ankunftsgeschichte fotografisch begleiten. Trotz minimaler deutscher Sprachkenntnisse waren diese Menschen unglaublich aufgeschlossen und um jeden Preis bemüht, etwas Sinnvolles zu tun. Die Frauen luden die Dorfbewohner immer wieder zu Tee und großartigen Mahlzeiten ein oder beschenkten sie mit tollen Handarbeiten. Die Männer versuchten sich in der Nachbarschaft helfend einzubringen und die Kinder zogen schon schnell mit den einheimischen Kindern durch das 600-Seelen-Dorf. Trotz der Abgeschiedenheit, die natürlich auch Tage der Langeweile und der drückenden Ungewissheit mit sich brachten, herrschte eine unglaublich gute Stimmung.

In den ersten zwei Wochen verbrachte ich täglich viele Stunden in der Unterkunft. Später besuchte ich sie dann etwa für eine Woche im Monat. Nach ein paar Tagen schon war meine Anwesenheit zur Selbstverständlichkeit geworden und ich konnte in fast allen Situationen fotografieren. Von dem anfänglichen Gefühl als Fotografin eine „größtmögliche Nähe“ zu den Personen erreichen zu müssen, konnte ich mehr und mehr Abstand nehmen und mich darauf verlassen, dass meine eigene Sichtweise als Fotografin, nämlich mich auf Gruppenkonstellationen aus dem Alltag zu fokussieren, seine Berechtigung hat.

Das Motiv mit dem Pferd ist für mich ein starkes Symbolbild. Es transportiert die positive Grundstimmung der Dorfgemeinschaft in dieser Zeit des Ankommens. Man sieht, dass die Geflüchteten neues Leben ins Dorf brachten und dass die Dorfbewohner alles dafür taten, um ihren Alltag in der Fremde möglichst angenehm zu gestalten. Es galt gemeinsam eine Aufgabe zu lösen. Das hat alle herausgefordert, aber vor allem zusammengeschweißt. Die Serie besteht nun aus zehn großformatigen Tafelbildern, die Gruppensituationen aus dem Alltag zeigen. Trotz scheinbarer Distanz zu den Protagonisten, berühren die Bilder. Sie sind vielschichtig und zeigen über die eigentliche Situation hinaus viele weitere Aspekte über den Umgang mit der Krise und über die Zwischenmenschlichkeit in einer Gemeinschaft.

Lena Giovanazzi wurde 1983 in Müllheim/Baden geboren. Sie studierte Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Mainz, arbeitet selbstständig als Fotografin und nimmt derzeit an der Postgraduiertenklasse der Ostkreuzschule bei Ute Mahler und Ingo Taubhorn teil.