Ein schönes Bild – Teil 1

„Wer professionell mit Bildern zu tun hat, sollte in der Lage sein, detailliert und dezidiert zu beschreiben, warum ein Bild gut ist. Ein Bild als „schön“ zu charakterisieren, ist nur ganz am Anfang des Kurses erlaubt, denn eine der ersten Fragen, die in der Klasse Bildredaktion behandelt wird ist: Was macht ein gutes Bild und eine spannende, überzeugende Geschichte aus? Die Klasse lernt anhand eines Kriterienkatalogs Fotos zu analysieren und eine Terminologie zu benutzen, in der das Wort „schön“ nicht vorkommt. Jede*r Bildredakteur*in sollte ein Bild auswählen, das sie*er in dem vergangen Jahr „entdeckt“ hat und begründen, warum ihr*ihm dieses Foto im Gedächtnis geblieben ist und es sie*ihn nachhaltig beeindruckt hat. Hier ihre gedankenvolle Auswahl der Bilder und ihre aufschlussreichen Texte.“
Nadja Masri, Leiterin der Klasse Bildredaktion

DNA

Foto: Viviane Sassen

Aus der Serie Flamboya, fotografiert von Viviane Sassen. Ausgewählt von Heidi Trostel

Als ich vor einiger Zeit einen Fotoblog durchstöberte, wurde ich auf die Arbeiten von Viviane Sassen aufmerksam. Die Serie Flamboya beinhaltet vornehmlich Portraits, die zwischen den Jahren 2000 und 2010 bei ihren zahlreichen Afrikareisen entstanden sind.
Das Bild mit dem Titel D.N.A hat mich in seiner Absurdität und gleichzeitigen Selbstverständlichkeit sofort in den Bann gezogen. In dieser, für den Betrachter ungewöhnlichen Manier, passt sich der Körper des kleinen Jungen scheinbar ganz natürlich dem des Mannes an, als würde er tagtäglich so auf dem Kopf getragen werden. Die Körperhaltung, graziös und würdevoll, erinnert an eine Tanzperformance. Beide verschmelzen zu einer Form, wie zwei zueinander gehörende Puzzleteile.
Sassens Fotografie fasziniert durch Irritation – keine Situation ist offensichtlich.
Die Szenerien wirken mystisch, fast surreal. Das Spiel zwischen Farbe und Form, Licht und Schatten, lässt an abstrakte, grafische Elemente erinnern. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, berühren ihre Bilder auf eine ganz aussergewöhnliche Art und Weise.

Chai Wan Fire Station

Foto: Chan Dick

Aus der Serie Chai Wan Fire Station, fotografiert von Chan Dick. Ausgewählt von Mehran Karimi

Chan Dicks Strecke über das Außengelände einer chinesischen Feuerwache fasziniert mich aufgrund der ungewöhnlichen, beinahe malerischen Bildsprache. Die zahlreichen Details lassen das Gelände und somit das Foto lebendig wirken. Durch die Sicht von oben auf die arbeitenden Männer, das Seil und die Bremsspuren, erhält das Bild eine gewisse Dynamik. Die Linien und die Perspektive erschaffen eine surreale, grafische Komposition, erregen Aufmerksamkeit und erzeugen Wiedererkennungswert.
Die herausstechenden Pastellfarben und die gewählte Vogelperspektive erschweren es, zwischen Miniaturwelt und Realität zu unterscheiden. Der Feuerwehrwagen ist kaum von einem Spielzeugauto zu unterscheiden. Selbiges gilt für die umherlaufenden Feuerwehrmänner, welche kleinen Spielfiguren ähneln. Die Größenverhältnisse werden einem spielerisch vor Augen geführt und durch die Aufteilung des Bildes werden diese nachvollziehbar.
Die Entstehungsgeschichte der Serie Chai Wan Fire Station basiert auf Zufall und Glück. Chan Dick entdeckte eines Tages das Gelände durch ein Belüftungsfenster seines Arbeitsraumes. Mehrere Monate verfolgte er das Geschehen des Ortes, an dem abgesehen von Feuerwehrtraining auch Mannschaftssport und diverse Freizeitaktivitäten stattfanden.

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Foto: Ben de Biel

Fotografiert von Ben de Biel. Ausgewählt von Jan Poppenhagen

1990 scheint im neuen Berlin alles möglich. Ein Jahr nach der Wende ist ein Vakuum entstanden. Noch weiß keiner, wohin die Reise geht. Aber es fühlt sich gut an.
Das Foto vor dem besetzten Haus in der Kinzigstraße ist eine idyllisch anmutende urbane Szene im Zeichen des Wandels. Während im Hintergrund der Schutt aus dem Gebäude befördert wird, entspannt man sich vor der Fassade unter einem improvisierten Sonnenschirm auf den Ziegelsteinpaletten. Zwei Herren in orientalischem Partnerlook werden von einem nackten Jungen in Sandalen flankiert. Die Straße wird zum offenen Theater. Ein harter Schatten durchtrennt das Bild und dient den einen als Schutz, während er andere in das Scheinwerferlicht  der Nachmittagssonne setzt. Die damals typische Berliner Architektur ist die ideale Bühne für all seine neuen Akteure/-innen und die Gebäude im Hintergrund stehen stellvertretend für vergangene Jahrzehnte. Die Nachkriegsbauten, das baufällige Mietshaus aus der Gründerzeit inklusive Brandmauer, oder die „Berliner Häuserlücke“. Für einen Augenblick scheint sich die Zeit nicht mehr weiterzudrehen und die Protagonisten/-innen werden zum Zentrum ihres eigenen Universums. Wird es ein Morgen geben? Der Betrachter weiß es und kann sich anhand einer solchen Szenerie im Herzen von Berlin nur ehrfürchtig wundern und vielleicht ein wenig mitträumen.
Der Fotograf und Clubbesitzer Ben de Biel war in dieser Zeit Akteur und Chronist in einem. In dem Fotobuch Berlin Wonderland, erschienen 2014, hat er diese kurze Epoche zwischen 1990 bis 1996 eindrucksvoll festgehalten.

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Foto: Clémentine Schneidermann

Aus der Serie  I called her Lisa-Marie, fotografiert von Clémentine Schneidermann. Ausgewählt von Aleksandra Rieder-Kollesinska

„Der King lebt!“, möchte man schreien, wenn man die Bilder aus der Serie I called her Lisa-Marie von Clémentine Schneidermann betrachtet. Die Fotografin spielt dabei mit unserem klischeehaften Denk- und Erinnerungsmuster.
Elvis´ Legende ist tief in unserer Kultur verankert und lebt jeden September in der kleinen Stadt Porthcawl in South Wales auf, während des Festivals zu Ehren des King. In dieser Zeit wird der Ort von Elvises und Pricillas bevölkert, die den Traum von Unsterblichkeit zu Realität werden lassen. Man erwartet eine Serie aus schrillen und lauten Bildern. Dagegen wird der Betrachter mit Stille, Nostalgie und Einsamkeit konfrontiert, wie in diesem Portrait von Steve. Erst auf den zweiten Blick fragt man sich, wer der sitzende Mann ist. Sofort aber erkennt man sein Idol– jenes Idol, welches sich nicht nur als junger Gott an der Wand wiederfindet, sondern zu einem Teil von Steves Identität geworden ist. Isoliert und einsam erscheint er dem Betrachter. Kein Blick in die Kamera, sondern Richtung Fenster, dazu der Lichteinfall – all dies verstärkt das Gefühl von Abwesenheit. So als ob der Protagonist zur Ikone der Ikonen der Ikone geworden wäre – zu etwas Unerreichbarem für den Nichteingeweihten. Ein irritierendes und faszinierendes Spiel mit der Identität.

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Foto: Evgenia Arbugaeva

Aus der Serie Tiksi, fotografiert von Evgenia Arbugaeva. Ausgewählt von Chantal Alexandra Pilsl

Das Bild zweier spielender Kinder wurde aufgenommen in Tiksi, einem verschlafenen Ort im Norden Sibiriens. Am Fuß des arktischen Ozeans gelegen, kam dem Dorf einst eine wichtige Bedeutung zu: Ware wurde von See- auf Flussschiffe verladen, um diese besser in der Republik zu verteilen. Mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn aber und dem späteren Zerfall der Sowjetunion ging nicht nur der wirtschaftliche Frachtverkehr drastisch zurück, sondern auch die Bevölkerungsanzahl. Heute leben in Tiksi nur noch knapp über 5000 Einwohner.
Die Faszination des Bildes liegt für mich in dem phantasievollen Spiel der Kinder inmitten dieses Niemandslandes, eingetaucht in eine Welt voll aufgetürmter Schneemassen und unnachgiebigem Eis. Unterstrichen wird dieser Eindruck noch durch das dominante Blau der bröckelnden Fassade und durch den blendend weißen Schnee, so dass es den Betrachter selbst fröstelt.
Aber trotz dieser unwirtlichen Umgebung sprüht die Komposition durch das sanfte und gleichzeitig kontrastreiche Farbenspiel sowie den liebevollen Details vor Lebensfreude. So beispielsweise der geblümte Rock des Mädchens, bei dem sich der Betrachter angesichts der Übergröße fragt, ob er wohl aus Omas Kleiderschrank stibitzt wurde? Oder ihr Spielgefährte auf dem Berg aus Eis, der eingewickelt in eine Decke die Arme zum Flug auszubreiten scheint und so an einen Ikarus des Schnees erinnert, der der Sonne entgegen fliegen möchte. Wohin ihn seine Phantasie in diesem Moment wohl trägt?

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Foto: Jackie Nickerson

Aus der Serie Terrain, fotografiert von Jackie Nickerson. Ausgewählt von Katia Klose

Das Rätselhafte an diesem Bild ist wohl, dass uns auf dem ersten Blick nicht ganz klar wird, auf welche Fährte wir geführt werden sollen, betrachten wir dieses seltsame Mischwesen – halb Mensch und halb Gewächs.
Wir kennen Portraits von Farmarbeitern aus ländlichen Gebieten, darauf verweist die Haltung des Abgebildeten und seine Kleidung in einer Umgebung, die wir als Feld oder ähnliches identifizieren. Was allerdings irritiert, ist die Art und Weise, wie die riesigen Bananenblätter wie eine Haube oder Gewand über die Person gestülpt sind. Somit wirkt das Setting durch den scheinbar inszenatorischen Eingriff ambivalent  und fordert uns heraus, da wir die offensichtlich mehrschichtige Bedeutung des Bildes nicht sofort entschlüsseln können. Die Person wirkt skulptural und bleibt zugleich im Verborgenen. Die zurückgenommene Farbigkeit verstärkt das Artifizielle und gleichzeitig nimmt sie das Spektakuläre zurück.
Eine „Auflösung“ findet sich wie so oft im Kontext der weiteren Bilder dieser Serie Terrain von Jackie Nickerson aus dem Jahr 2014. Die amerikanische Fotografin bemerkt zu ihren Bildern von Farmarbeitern aus Südafrika, es gehe ihr um die Wechselwirkung, wie wir durch unser alltägliches Tun unsere Umwelt verändern und dadurch gleichzeitig wir selbst verändert werden.

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