Nahaufnahme

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen/-innen und Dozenten/-innen der Ostkreuzschule über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. Hier berichtet die Fotografin und OKS-Absolventin Sonja Hamad über ein politisches und gleichzeitig sehr persönliches Frauenportrait.

Die kurdischen Freiheitskämpferinnen – Jin – Jiyan – Azadi.  Frauen, Leben, Freiheit

„Man sagt, dass der Tod durch die Hand einer Frau potentiellen islamistischen Märtyrern den Weg ins Paradies versperrt. Seit Anfang 2015 arbeite ich an meinem Projekt Jin – Jiyan – Azadi. Frauen, Leben, Freiheit über die kurdischen Freiheitskämpferinnen in Nordsyrien und die Guerilla-Kämpferinnen im Nordirak in den Bergen Kurdistans. Sie kämpfen gegen den IS, als auch für mehr Frauenrechte im Nahen Osten und werden in ihren Heimatstädten als Heldinnen verehrt.

Das Porträt der jungen Diljin Avesta, die erst 21 Jahre alt ist, ist auf meiner zweiten Reise in den Nordirak in den Bergen Kurdistans entstanden. Sie und ihre Mitkämpferinnen tragen die Kleidung der Guerilla. Zur der weiten Hose ein dünnes Hemd, über das eine Uniformjacke gezogen wird. Um die Taille einen breiten, bunten Gürtel, auf Kurdisch ‚Schutik‘ genannt – unter dem meist ihre Waffen stecken, darüber eine Weste, alles in olivgrün. Die Kunst bei dieser Uniform besteht darin, sich den meterlangen Gürtel um die Hüfte zu binden.

Wenn die Mädchen und Frauen Mitglied werden, müssen sie registriert werden und bekommen eine neue Identität, einen neuen Vor- und Nachnamen. Oftmals nennen sie sich nach alten Märtyrern oder geben sich die Namen der Provinzen und Städte Kurdistans. Sie alle sprechen sich mit ‚Haval‘ (was so etwas meint wie ‚Freund, Kamerad‘) und dem neuen Vornamen an. Sterben Frauen im Kampf, werden sie als Märtyrerinnen verehrt, sogar noch stärker als die gefallenen Männer. Ihre Fotos hängen in der ganzen Stadt und in den Wohnungen. Die Armee ist der erste Ort, an dem sie Gleichberechtigung erleben.
Aber es gibt auch strenge Regeln:  Diljin wird sich nie verlieben dürfen, Diljin wird weder heiraten noch Kinder bekommen. Der Beitritt zur PKK (die Arbeiterpartei Kurdistans, Anm. d. Red.) ist ein lebenslanges Bekenntnis. Man soll sich voll und ganz auf die Freiheitsbewegung konzentrieren.

Es wäre nicht übertrieben, die kurdische Frauenbefreiungsbewegung – aus militärischer, ideologischer und organisatorischer Sicht – als aktuell weltweit stärkste Frauenbewegung zu bezeichnen.
Hunderte kurdische, jesidische Frauen wurden in Sindscha vom sogenannten Islamischen Staat verschleppt und auf Märkten als Sex-Sklavinnen verkauft, vergewaltigt und geköpft. Dieser durch die Barbaren des IS umgesetzte Feminizid hat System und ist ideologisch begründet. In diesem Zusammenhang steht der IS für eine der direktesten, extremsten und brutalsten Formen von Patriarchat, Sexismus und Feudalismus. Er steht für ein ideologisches Weltbild, in dem Frauen keinerlei Rechte und Wert besitzen. Somit sind es die Frauen, die am meisten zu verlieren haben. Das ist der Grund, warum sich in ganz Kurdistan Frauen aller Altersgruppen in großer Zahl an den verschiedensten Bereichen des Kampfes beteiligen.

Der Ort, an dem Diljin stationiert war, war für mich auf meiner Reise nur ein Zwischenstopp. Zuvor hatte ich bereits mehrere Wochen mit anderen Freiheitskämpferinnen intensiv Zeit verbracht. Das Portrait entstand an meinem letzten Tag vor der Rückreise nach Syrien und dann weiter über die Grenze ins sichere Erbil. In der Nacht hatten die Amerikaner die IS-Stellungen bombardiert. Die Detonationen waren so nah, dass wir spürten, wie der Boden vibrierte und ich dadurch panisch aufgewacht bin. Nach vier Wochen Krieg und Leid war ich am Ende meiner Kräfte und  am nächsten Tag beschloss ich, Sindscha zu verlassen – ich hatte nicht mal mehr Energie meine Kamera in die Hand zu nehmen.“

Sonja Hamad wurde 1986 in Damaskus als Kind kurdischer Eltern geboren. Sie studierte von 2010 bis 2013 an der Ostkreuzschule für Fotografie, Berlin bei Sibylle Fendt.
Aktuell lebt und arbeitet Sonja als freie Fotografin in Berlin und hat ihre nächsten Reisen in den Nordirak bereits geplant, um die Freiheitskämpferinnen weiter zu begleiten.