Nahaufnahme

In der Rubrik Nahaufnahme sprechen Fotografen und Dozenten der Ostkreuzschule über Bilder, die ihnen besonders am Herzen liegen. In diesem Teil der Serie erzählt Chiara Dazi die Geschichte ihres Portraits von Sarah. Das Bild stammt aus ihrer Arbeit Wandertage.

Wandertage©Chiara Dazi
„Sarah, in der Nähe von Ülzen geboren und aufgewachsen, ist von Beruf Bäckerin. Nachdem sie ihren Gesellenbrief ausgehändigt bekam, entschied sie sich, die nach Abschluss der Lehrzeit traditionelle Wanderschaft anzutreten. Kurz davor lud die zukünftige Wandergesellin zur Abschiedsparty, zu der sie die Gesellen/-innen, die auf einer Sommerbaustelle in Ülzen arbeiteten, einlud. So kam auch ich zu der Einladung, denn ich verbrachte in diesem Sommer zwei Wochen mit den Wandergesellen/-innen auf der Baustelle. Reisende Handwerker arbeiten einmal im Jahr für ein soziales Projekt, wobei die Entlohnung ausschließlich aus Verpflegung und Unterkunft besteht. Auf diese Weise geben Sie der Gesellschaft zurück, was ihnen während der Walz gegeben wurde.

Es war Freitagabend, als der Auslöser meiner Rolleiflex plötzlich nicht mehr funktionierte. Das Gewicht meines Rucksacks hatte ich so bescheiden wie möglich halten wollen und deshalb diesmal keine zweite Kamera eingepackt. Denn ich war während der Arbeit an meinem Projekt über die Wanderschaft teilweise bis 20 Kilometer pro Tag zu Fuß unterwegs. Die Rolleiflex hatte in der staubigen Umgebung der Baustelle stark gelitten, da ich sie immer bei mir trug. Ich habe nicht ausschließlich fotografiert, sondern auch auf der Baustelle mitgearbeitet: ich lernte, Fliesen zu verlegen und half beim Abbau eines Daches. Am Samstag war Sarahs Abschiedsparty und die traditionellen Rituale wollte ich auf keinen Fall verpassen. Mir fiel ein, dass Ülzen nur ein Paar Stunden von Braunschweig, dem Geburtsort der Rolleiflex, entfernt ist. Gemäß dem Brauch der Wandergesellen/-innen, trampte ich den Weg bis zu meinem Ziel. Die Fahrer, die mich jeweils ein Stück ihres Weges mitnahmen, erzählten mir viele spannende Geschichten über die Salzstraße. Überraschend schnell erreichte ich Braunschweig. In einem Fachgeschäft ließ ich meine Kamera prüfen und mit einer wieder einwandfrei funktionierenden Rolleiflex machte ich mich auf den Weg zu Sarahs Fest. Dieses fand in dem kleinen Dorf Leisten statt, das gerade mal 50 Einwohner zählt.

Die Festgemeinde versammelte sich in der Natur, umgeben von Wald und in der Nähe eines Teiches. Um Mitternacht, nachdem Sarah ihre Kleidung angezogen hatte, die sie während der drei Jahre auf ihrer Wanderschaft tragen würde, fand ein wichtiges Ritual statt. Mit einem handgeschmiedeten Nagel wurde ihr für das Tragen eines Ohrringes ein Loch in das Ohrläppchen gestochen. Alle reisende Gesellen/-innen tragen einen Ohrring. Dieser dient unter anderem als Gruppenkennzeichen und symbolisiert Ehrwürdigkeit. Sarahs Ohrläppchen wurde auf der breiten Kante des Holzzauns, der den Teich umgab, durchstochen. Während sie ihr Versprechen sprach, musste sie eine zeitlang mit dem Kopf an den Zaun gelehnt verharren. Es war stockdunkel und als einzige Lichtquelle diente mir eine Taschenlampe, mit der einer der Gesellen das Geschehen beleuchtete. Um die Szene von oben einfangen zu können, diente mir der Zaun als Stütze und ich stellte mich so hoch auf meine Zehenspitzen, wie nur irgendwie möglich. Schließlich gelang mir dieses Bild. Für mich ist es eines der Wichtigsten meiner Arbeit Wandertage. Die magische Stimmung im Bild erinnert mich an meine Zeit auf ‚Wanderschaft‘ und an das, was ich von den Gesellen/-innen gelernt habe: nicht aufzugeben und den Weg zu gehen, an den man glaubt. Dann kommt man auch da an, wo man hin will.

PS: Sarah ist vor ein paar Wochen von ihrer dreieinhalb jährigen Wanderschaft heimgekehrt. Ich werde bei ihrem anstehenden Fest wieder dabei sein dürfen.“

Hier geht’s zur Website von Chiara Dazi.

Chiara Dazi wurde in Italien geboren. Sie studierte Kommunikationswissenschaften an der Universität Bologna. Anschließend arbeitete sie drei Jahre im Archiv der „Agence VU“ in Paris. Danach zog sie nach Berlin, wo sie an der „Ostkreuzschule für Fotografie“ bei Thomas Sandberg studierte. Sie lebt und arbeitet in Berlin.